Rezension eines Gedichtbands von Martin Bernhardt
Von Michael Gratz
Die Axt, die das Leben der Bäume beendet, ist eine seiner Bildfindungen, die er in mehreren Texten verwendet. Das Gedicht „Abseits der Grenzen“ entstand im Oktober 1983, da war er 22 Jahre alt:
Abseits der Grenzen
steht neben der Mauer
eine zweite Mauer
dazwischen wächst Gras
wird der Tau kommen
wird das Gras blühen
dann singt der Strom in den Zäunen
Wird der Tau trocken
wird das Gras welk
wächst ganz woanders ein Baum
der von allem nichts weiß
Werden die Männer kommen
werden den Baum sehen
auf dem etwas sitzt und ruft
Wird einer zu fällen beginnen
wird der Baum sagen
das Maß allen Lebens
ist die Axt
Der Band, der „fast alle im Nachlaß gefundenen Gedichte“ und einige Mail-Art-Karten sowie Fotos und Materialien enthält, umfaßt 80 Seiten. Die Gedichte stammen aus den Jahren 1978 bis 1996, die meisten aus den 80er Jahren. Der Titel ist eine Variante des Axt-Bildes:
„Das Maß allen Lebens ist die Axt, sagt der Baum.“
Die frühesten Gedichte stammen aus seinem 17. Lebensjahr – 6 Gedichte insgesamt. Nicht eins davon liest sich wie ein Anfängergedicht, wie man sie so oft zu lesen bekommt. Das scheint eine Greifswalder Spezialität. Die in Greifswald lebende Barockdichterin Sibylla Schwarz starb mit 17 Jahren und wurde zu Recht als „ein Wunder ihrer Zeit“ gerühmt. Mit 17 war sie besser als Goethe, habe ich mal geschrieben. Und es stimmt. Heute werden ihre Gedichte in vielen Ländern gelesen. Mit dem Wort „Wunder“ haben wir es heute nicht so sehr, aber Martin Bernhardt war ein Frühvollendeter. So schrieb er mit 17:
WAS KEINER WEISS
Wie Gras sein
Wie Grenzen der grünen Gewalten
Wirf mir deine Hand zu Wald
Nimm mich auf
In wallenden Wogen
Verwurzel die grünen Gewölbe
Wir wollen wieder wissen
Woher der Wind weht
In dem wir uns nicht wenden
Widerwärtig was ihr da redet
Welcher Verlockung
Wollt ihr mich entwenden
Wenig was ihr noch erwartet
Ich aber wohne in wirklichen Welten
Was da welk war
Wird sich wohlig verwachsen
Wie wunderbar diese Wende
Weil es Wunder gibt
Wie Wald
Sibylla Schwarz lebte während des 30jährigen Krieges und mußte als Kind nacheinander die marodierenden kaiserlichen und schwedischen Truppen erleben. Martin Bernhardt lebte im tiefsten Frieden in der DDR, also in einem Land, das wildwachsendem Talent mißtraute. Selbstgedruckte Gedichte oder künstlerische Experimente wie Performance oder Mail Art erregten den Argwohn der Oberen. Ein Heer von Spitzeln wurde auf undomestizierte Talente gehetzt. Hätte er in Berlin gelebt, hätte er vielleicht zur dortigen Undergroundszene gefunden, die in diesen Jahren gewisse Freiräume gewann. Uwe Kolbe oder der aus Greifswald geflohene Bert Papenfuß konnten sich dort trotz Bespitzelung und Schikanen mit Gleichgesinnten entwickeln. Die Szene in der Provinzstadt wurde unbarmherzig verfolgt. In Ermangelung wirklicher Staatsfeinde hielt man sich an die unangepaßten jungen Leute.
/ Lesen Sie den vollständigen Text der Rezension hier:
47. Das Maß allen Lebens ist die Axt, sagt der Baum
1985 wurde Martin Bernhardt aus politischen Gründen zu fünf Monaten Haft verurteilt. Später wurde er Facharzt für Neurologie/Psychiatrie in Ueckermünde, wo er sich mit 39 Jahren das Leben nahm.
Martin Bernhardt – Das Maß allen Lebens ist die Axt sagt der Baum (Gedichte)
Berlin: Verlag Lutz Wohlrab
http://www.wohlrab-verlag.de/buecher.php