Das ‘Leck’ im Afghanistankrieg

92.000 Seiten mit Berichten über den Krieg in Afghanistan wurden von der Whistleblower-Organisation ‘WikiLeaks’ veröffentlicht*1 Am Montag berichtete The Guardian, die New York Times und Der Spiegel darüber. Die Veröffentlichung fördert wenig Wichtiges und nichts wirklich Neues zutage. Das unterscheidet sie von den so genannten ‘Pentagon Papers’2, mit denen sie unweigerlich verglichen wird.

Doch diese neue Veröffentlichung erhöht den politischen Druck auf eine Kriegspolitik, die 2010 bereits empfindlich an Glaubwürdigkeit verloren hat – denn sie zeigt die Widersprüche zwischen der offiziellen Bewertung der (Kriegs-)Strategie und der Realität (die sich in den Dokumenten widerspiegelt). Das gilt vor allem für die Rolle Pakistans in diesem Krieg.

Die ‘Pentagon Papers’ waren eine Chronik jener politischen Prozesse, die zum Krieg in Vietnam führten sowie der politischen Prozesse, die anschließend, während des Kriegs, stattfanden. Im Unterschied dazu dokumentieren die WikiLeaks-Dokumente Tausende Vorfälle und Situationen vor Ort, über die US-Soldaten und andere Nato-Soldaten berichteten.

Diese verdeutlichen die chronischen Probleme des US-/Nato-Engagements in Afghanistan.

Zu den Themen, von denen die Dokumente berichten – manchmal sehr drastisch, meistens jedoch in Form nüchterner Militärberichte – gehört auch das Thema ‘getötete Zivilisten’. Es geht um die Zivilisten, die anscheinend ohne Absicht getroffen wurden – weit weg vom Kampfgeschehen. Es geht auch um das Thema der nächtlichen Razzien durch Sondereinheiten, die sich häufig auf schlechte Geheimdienstinformation verließen. Es geht um Übergriffe durch die afghanische Polizei, die keinen rechtlichen Einschränkungen unterworfen ist bzw. um die tief verwurzelte Korruption innerhalb des offiziellen Afghanistan.

Das politisch brisanteste Thema – ein Highlight der neuen Dokumente – ist Pakistans angebliche politische und materielle Unterstützung für den Taliban-Aufstand (obgleich Pakistan nach außen die US-Politik in Afghanistan unterstützt).

Die neuen Dokumente enthalten etliche Geheimdienstberichte, die von dem (ehemaligen) Direktor des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI, Generalleutnant Hamid Gul, handeln. Ende der 80ger Jahre soll Gul weiterhin mit Taliban-Kommandeuren zusammengearbeitet haben. Er soll (dem gestürzten afghanischen Regierungschef) Mullah Omar loyal gegenübergestanden haben – ebenso aber auch dem Aufstandsnetzwerk von Jalaluddin Haaqan und Gulbuddin Hekmatyar.

In einigen Berichten kommt offensichtlich die einseitig negative Haltung des afghanischen Geheimdienstes gegen Pakistan zum Ausdruck – geschrieben in einer Zeit, da der afghanische Geheimdienst noch unter Leitung des ehemaligen Geheimdienstchefs der Nordallianz, Amrullah Saleh, stand. Dennoch ist der Eindruck, der vermittelt wird, nämlich, dass Pakistan die Taliban unterstützt hat, insgesamt glaubwürdig – zumindest in den Augen der Nachrichtenmedien, die in den vergangenen Jahren etliche entsprechende Pressemeldungen bestätigt haben.

Die New York Times leitete ihre Berichterstattung über die WikiLeak-Dokumente mit einem eigenen Artikel zum Thema Pakistan/Taliban ein. Darin steht, die Dokumente spiegelten „ein tiefes Misstrauen“ unter den „amerikanischen Offiziellen“, die befürchteten, so der Times-Artikel, „dass der pakistanische Militärgeheimdienst mit verborgener Hand und über Jahre hinweg den afghanischen Aufstand gelenkt habe – obwohl Pakistan jährlich mehr als 1 Milliarde Dollar von Washington erhalten hat, um dazu beizutragen, die Militanten zu bekämpfen“.

Das Thema pakistanisches „Doppelspiel“ bezüglich Afghanistan ist einer der wundesten Punkte in der Politik der Obama-Administration. Hier reagieren einige Leute der politischen Elite und der Nationale-Sicherheit-Elite politisch hochsensibel. Sie machen sich Sorgen, ob es überhaupt noch eine Hoffnung gibt, dass die Kriegsstrategie zum Erfolg führen kann – selbst wenn General Petraeus nun das Kommando hat.

Ein US-Demokrat, der zu den Gegnern der Kriegspolitik zählt, Senator Russ Feingold, schlug umgehend Kapital aus der Tatsache, dass der Schwerpunkt der durchgesickerten Dokumente auf der Unterstützung Pakistans für die Taliban liegt. Der Senator, der auch im ‘Foreign Relations Committee’ sitzt, sagte in einer Erklärung am Montag, die Dokumente „heben ein grundlegendes strategisches Problem hervor, nämlich, dass Elemente der pakistanischen Sicherheitsdienste Komplizen des Aufstandes sind“.

In Kombination mit „widerstrebenden Zielen innerhalb der afghanischen Sicherheitskräfte“, so Feingold, schließe dieses Problem jede „militärische Lösung in Afghanistan“ aus.

Auch der afghanische Präsident, Hamid Karsai, schlug Kapital aus der neuen Story, die durch die Dokumente ja quasi entstanden ist. Karsai veröffentlichte ein Statement, in dem er die „sicheren Häfen“ (sanctuaries) entlang der pakistanischen Grenze als primäres Problem seiner Regierung bezeichnete: „Unsere Anstrengungen gegen den Terrorismus werden wirkungslos bleiben, solange diese Schutzräume und Quellen intakt bleiben“, so Karsai.

Im Februar 2010, sprach der damalige Direktor des Nationalen Geheimdienstes, Dennis Blair, aus, was Offizielle der (US-)Administration sich bereits privat eingestanden hatten. Die „sicheren Häfen’, die die Taliban auf der pakistanischen Seite der Grenze genießen, zu vernichten, „wird allein nicht ausreichen, um den Aufstand in Afghanistan zu besiegen“. Doch sei dies eine „notwendige Bedingung“, um in Afghanistan „Fortschritt(e)“ zu erzielen.

Das Weiße Haus veröffentlichte am Sonntag eine Zusammenstellung von Erklärungen, die hohe Regierungsoffizielle in den letzten 18 Monaten abgegeben hatten – und gestand so implizit seine politische Verwundbarkeit bei diesem Thema ein. Die Erklärungen sollten zeigen, dass diese Offiziellen Pakistan beim Thema ‘Afghanistan’ hart rangenommen hatten.

Aber keine der zitierten Erklärungen aus dem Paket trug der Realität Rechnung, nämlich, dass die pakistanische Politik, den Aufstand der Taliban zu unterstützen, seit langem fest verankert ist und sich auch nicht ändern wird.

Admiral Michael Mullen, der Vorsitzende des ‘Joint Chiefs of Staff’ (Generalstab) der USA, gab im April 2009 zu, dass einige „Elemente“ des ISI “ Verbindungen mit „jenen militanten Organisationen“ hätten. Allerdings legte er nahe, dass der pakistanische Generalstabschef Ashfaq Kayani, zu dem Mullen eine enge Beziehung aufgebaut hat, derzeit gerade dabei sei, den Geheimdienst (ISI) umzukrempeln.

Im Grunde bat Mullen um etwas Zeit. Wandel „vollzieht sich nicht über Nacht“, sagte er. „Es braucht ziemlich viel Zeit, um eine Organisation umzumodeln“.

Es wäre ein ernster – womöglich fataler – Schlag ins Gesicht der Obama-Strategie (bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit) würde man jetzt eingestehen, dass Pakistans grundlegende Interessen im Afghanistan-Krieg im Konflikt zur Kriegsstrategie der USA stehen. Die US-Strategie besteht ja darin, „der Dynamik der Taliban“ mit Gewalt entgegenzutreten und sie dadurch „umzukehren“ (im Sande verlaufen zu lassen).

In den kommenden Wochen werden die Nachrichtenmedien die Berge von neuen Dokumenten durchkämmen. Es wird darauf ankommen, inwieweit der oben genannte Widerspruch sowie weitere Widersprüche ins Rampenlicht gerückt werden – denn dies könnte den Prozess der schwindenden politischen Unterstützung der außenpolitischen bzw. politischen Eliten für den Krieg in Afghanistan weiter beschleunigen.

Bereits in den vergangenen Monaten hatte die politische Unterstützung für den Krieg bei den politischen Eliten bzw. bei der für die nationale Sicherheit zuständigen Elite Amerikas rapide abgenommen. Inzwischen ist dieser Prozess schon sehr weit fortgeschritten, und weitere Prominente aus den elitären Zirkeln der Nationalen Sicherheit – Republikaner wie Demokraten – signalisieren, dass es innerhalb ihrer Kreise eine Entwicklung in Richtung eines Konsenses gibt, die lautet: Diese Kriegsstrategie kann keinen Erfolg haben. Sie vergleichen die Sache mit jenem Prozess, der sich 2006 in Washington – im Zusammenhang mit dem Irakkrieg – abgespielt hat.

In der vergangenen Woche schlossen sich auch Rober Blackwill (George W. Bushs ehemaliger stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater) und Richard Haass (ein ehemaliger Offizieller der Bill-Clinton-Administration und Präsident des ‘Council on Foreign Relations’) dem Chor der Zweifler an. Sie forderten, den Süden Afghanistans den Taliban zu überlassen und sich in den Norden zurückzuziehen.

Haass schrieb einen Artikel für die ‘Newsweek’, der den Titel trug: ‘We’re Not Winning. It’s Not Worth It’.

Quelle: ZNet Deutschland


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