Die Kinobühnenschau „La pasada – die Überfahrt“ des Salon5 lädt im Metro Kinokulturhaus auf eine Achterbahnfahrt zwischen verschiedenen Realitätsebenen ein.
Sie heißen Caliban oder Antonio. Sie zitieren Verse aus Shakespeares „unaufführbarem Werk der Sturm“, O-Ton Regisseurin Anna Maria Krassnigg. Die übermächtige Leinwand versucht, sich das lebendige Theater, das davor über die Bühne geht, zu krallen. Allein, das Ensemble und der Text sind zu stark. David gegen Goliath könnte man die neue Inszenierung von Anna Maria Krassnigg zusammenfassen, mit dem Ergebnis, dass der ungleiche Kampf in diesem Match unentschieden endet.
Dafür sorgen die brillanten Schauspielerinnen und Schauspieler. Allen voran Erni Mangold. Sie tritt in dem Stück „La Pasada“ von Anna Poloni als Familienoberhaupt der vierten Generation auf, was aber nicht von Anfang an wirklich klar ist. Die höchst kunstvoll verschachtelte Geschichte rund um ein Familiengeheimnis, löst sich erst Stück für Stück im Laufe des Abends auf. Aus einer Geliebten zu Anfang wird eine Urgroßmutter am Ende. Das, was in diesem Leben dazwischenlag, gilt es, step-by-step mit Voranschreiten der Handlung zu enträtseln.
Eine der größten Stärken des Abends liegt in seiner permanenten Verschränkung zwischen dem Geschehen auf der Kinoleinwand und jenem direkt davor auf der Bühne. Wer meint, in der Kunst gäbe es nichts Neues, Entdeckenswertes mehr, der irrt und hat gleichzeitig doch recht. Denn das Genre, in dem sich „La Pasada“ bewegt, ist eigentlich ein historisches. Die Kinobühnenschau ist ein vergessenes Kapitel Kulturgeschichte, in dem Kino und Live-Spiel kombiniert wurde. Allerdings: Die große Leinwand, der Ton, der Farbfilm, all das gab es zu Beginn der bewegten Bilder noch nicht.
Die zweite Stärke aber liegt im Text selbst. Poloni geizt dabei nicht mit Lebensweisheiten, Bonmots und einem subtilen Witz. „Er macht aus dem Leid Leben und nicht aus dem Leben Leid“, sagt an einer Stelle die weise Flora. Eine wunderbare Metapher, die nicht nur das Schicksal des Flüchtlings Cal umreißt, sondern für all jene Menschen steht, die das Leben verstanden haben. Sätze wie diese, und davon gibt es viele, geben dem Stück etwas sehr Kostbares. Man bekommt große Lust, es noch einmal nachzulesen. Besonders auch die Verquickung, die Poloni zu Shakespeares Sturm gelingt, beeindruckt. Gerade die multiplen Layer, die sich in diesem Werk auffinden lassen, machen es so hoch spannend. Dabei kann man sich über weite Strecken seiner eigenen Erkenntnis, die man bis dahin gewonnen hat, nie sicher sein. Denn im Handumdrehen muss man seine Anschauung dann auch wieder revidieren.
Familiengeheimnisse beeinflussen direkt das Leben der Nachkommen. Geheimnisse, die auf Lebensentscheidungen basieren, die sich im Fortgang der Generationen wiederholen. Schuld wird nur bei den anderen gesehen, die Auswirkungen des eigenen Verfehlens nicht in die kommenden Generationen weitergedacht. Eingedenk der Familienaufstellungen, die rund um den Globus beinahe schon zum guten Ton gehören, ist „La Pasada“ ein extrem zeitgeistiges Stück und doch zeitlos zugleich.
Die unterschiedlichen Ebenen zwischen Theater und Film werden gegen Ende noch durch die der Einbindung des Publikums erweitert. Eine logische, dramaturgische Konsequenz, die damit die unterschiedlichen Realitäten miteinander in Einklang bringt und eine zusätzliche Prise Humor ins Geschehen einstreut.
Die Kostüme von Antoaneta Stereva wiederholen die Verschränkung nicht nur zwischen Leinwand und Bühne, sondern auch über die Generationen hinweg und geben mit subtilen Farbcodes Hinweise auf familiäre Zusammenhänge.
Erni Mangold als weise Urgroßmutter, die sich, ausgelöst durch den Besuch ihres Urenkels, daranmacht, ihr Lebensgeheimnis zu lüften, ist ausschließlich im Film präsent. Gioia Osthoff hingegen, die Reinkarnation von Flora und der Beginn einer neuen Familiensaga, hat eine extrem anstrengende stumme Rolle auszuliegen. Flavio Schily, derzeit noch im Gymnasium tätig, schafft das Kunststück, mit jugendlicher Unbekümmertheit Erni Mangold einen wunderbaren Gegenpart entgegenzusetzen. Doina Weber in der Rolle der Extremverdrängerin und zugleich lamentierenden Anklägerin erkennt Martin Schwanda nicht als ihren Sohn. Dieser stottert sich als Altphilologe (die Sprache ist ein Dialekt, der Glück gehabt hat) durchs Leben, brilliert aber auch als Verführer der jugendlichen Flora und als späterer Familienvater. Antionis Mutter (Doina Weber) ist es lieber, weiter in Albträumen zu verweilen, die ihr die Schuld der Weglegung ihres eigenen Kindes verschleiern, als den leibhaftig vor ihr Stehenden als eigenes Fleisch und Blut anzuerkennen. David Wurawa als Vermittler zwischen allen Welten und Wirklichkeiten schwankt permanent zwischen Konjunktiv und Vergangenheit, der ja „auch nichts anderes ist als ein Konjunktiv“.
Das Stück wurde bereits im Sommer im Thalhof uraufgeführt. Die Inszenierung in Wien, in der kleine Änderungen vorgenommen wurden, besticht durch ihre Intimität und Konzentration und nicht zuletzt durch den Aufführungsort selbst.
Nur noch bis 28. November!!!
Informationen auf der Homepage von Salon5