Das Leben ist schwarz und weiß

Das Leben ist schwarz und weiß

Romanze von Cie Blicke (c) Raoul Gilibert

Unter dem Begriff „Romanze“ stellt man sich gemeinhin etwas Romantisches vor. Etwas, das sich gefühlsmäßig zwischen zwei Menschen auf dem Weg zur Liebe hin entwickelt. Etwas, das nach rosa Zuckerwattewölkchen schmeckt und ein wenig nach Veilchenlikör riecht.

„Romanze“, so heißt das neue 2-Personen-Tanz-Stück von Virginia Heinen, das sie im Januar im Pôle-Sud in Straßburg zur Aufführung brachte. Tatsächlich ist es ein Stück über zwei Menschen und tatsächlich scheinen die beiden anfänglich von soviel Romantik umgeben, dass sie die Welt um sich nicht mehr wahrnehmen. Die Tänzerin und Choreografin und ihr Tanzpartner Martin Grandperret rollen zu Beginn des Stückes in einer nicht endlos wollenden Choreografie minutenlang eng umschlungen quer über den Bühnenboden, heben sich gegenseitig ab und zu ein wenig hoch, gerade soviel, dass sie nie ihren engen Körperkontakt verlieren, verändern permanent ihre Positionen, so als wollten sie jeden einzelnen Zentimeter des anderen genießen, um schließlich wie benommen auf zwei Fauteuils zu landen und langsam aus ihrer Verliebtheitstrance aufzuwachen. „Verweile doch, du bist so schön“ wäre das passende Faust´sche Zitat zu diesem Geschehen, das auf eindringliche und zugleich höchst kunstvolle Art die innige Liebe zweier Menschen visualisiert. Doch, wie schon bei Goethe festgestellt werden musste, ist nichts von ewiger Dauer. Auch nicht die schönste Romanze. Was so kuschelweich begann, ändert sich in wenigen Minuten und artet zum konfliktreichen Paargeschehen aus.

Der Plot der tänzerischen Erzählung ist mit wenigen Worten rasch beschrieben. Mann und Frau lieben sich inniglich, Mann verlässt Frau, Frau trauert, Mann kehrt zurück, Frau will sich rächen, frei sein, Mann möchte jedoch wieder eine funktionierende Beziehung. Mann und Frau beginnen, um ihre Vormacht in der Beziehung zu kämpfen,  Mann und Frau geht es schlecht dabei, Mann und Frau besinnen sich, finden einen Konsens und gehen ihren weiteren Lebensweg wieder gemeinsam. So richtig schwarz und weiß eben, wie auch das Leben – zumindest von einem gewissen Blickwinkel aus  –  schwarz und weiß ist. Zwar findet das Paar wieder zusammen, agiert aber nun nicht mehr innig umschlungen. Was von der körperlichen Nähe bleibt, sind gerade mal zwei aufeinander ruhende Unterarme, die auf den Armlehnen der nebeneinander geschobenen Lehnsesseln in amikalem Einverständnis plakativ zueinandergefunden haben.

Was auf der Bühne tänzerisch so locker erzählt wird, ist nichts anderes, als die tatsächlich gelebte Geschichte von Millionen und Abermillionen Liebespaaren nur: Das Ende sieht in der Realität außerhalb des Theaters oft anders aus. Virginia Heinen verpasst ihrem Stück bewusst ein Happy End. Die Zerwürfnisse, die des Langen und Breiten bei ihr körperlich dekliniert werden, reichen ihr scheinbar vollkommen. Kein Happy End zu zeigen wäre zu viel des Guten, bzw. des Schlechten. Und in gewisser Weise ist das auch verständlich, denn wer lässt sich schon gerne so zusammenbrüllen, dass jedes einzelne Wort wie ein Peitschenschlag wirkt, ohne dass danach eine Versöhnung in Aussicht stünde? In ihrem Stück erlebt sie das Ausrasten ihres Tanzpartners auf diese Art und Weise. Während er, auf einer Wand sitzend, von oben auf sie einbrüllt, treffen seine Worte ihren zarten Körper, der von jedem einzelnen aufs Neue wie durchgepeitscht wirkt. Er verlässt sie, bedroht und demütigt sie und missbraucht sie zugleich als Halt in seiner eigenen Not. Sie verlässt ihn, demütigt ihn und klammert sich an ihn, dass ihm die Luft zum Atmen fehlt. Es scheint so, als ginge es weder mit ihm noch ohne ihn. Nec tecum, nec sine te, wie es schon im alten Rom trefflich erkannt wurde. Aber – und hier trifft sich Heinens Idee wieder mit jener von Abermillionen – alles scheint besser zu sein als die Einsamkeit und die endlose Trauer um eine vergangene Liebe.

Diese wohl ewige Geschichte von Liebe und Zerwürfnis wird unter dem Label von Cie Blicke, unter welchem die Tänzer agieren, nicht über- aber auch nicht unterinterpretiert. Und gerade darin liegt die Stärke, aber zugleich auch die Irritation dieser Aufführung. Da glättet auch das schönste Happy End nichts mehr. Aber ist es überhaupt ein schönes Happy End, wenn das Paar zwar nebeneinander sitzt, aber jeder von ihnen in die entgegengesetzte Richtung des anderen blickt? Die Wahrheit scheint bei Heinen hinter dem zu liegen, was offenkundig erscheint. So wie man in der Kommunikation zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur unterscheidet, so unterscheidet die Künstlerin zwischen dem Sichtbaren, dem Getanzten und dem Unsichtbaren, dem Nicht-Getanzten, dem Unausgesprochenen. Allein die Reaktionen der beiden Liebenden machen deutlich, dass sich das Unausgesprochene immer Bahn bricht. Was gesagt werden müsste, aber nicht gesagt werden kann, muss sich letztendlich körperlich ausdrücken, um zu seinem Recht zu gelangen. Nur in jenen Passagen, in welchen die beiden verlassen und alleine auf sich gestellt sind und jeder für sich seiner eigenen Trauer und Wut nachgehen kann, gibt es diese Unausgesprochenheit nicht. Hier liegt alles offen, scheint alles klar.

Spannend, wie sich Heinen und Grandperret gerade in diesen Passagen in ihrem ganz persönlichen Stil ausdrücken, der ihre eigene tänzerische Handschrift offenlegt. Meisterlich, wie das Paar in seinem Kampf um die Vormachtstellung in der Beziehung wie zwei wild gewordene Stiere Stirn an Stirn gegenseitig versucht, sich wegzudrücken. Berührend, wie es sich gegenseitig bespringt, um sich am anderen mit aller Macht festzuhalten, festzuklammern, um dennoch brutal abgeschüttelt und weggestoßen zu werden. Mit hohem Identifikationspotential führen sie einen Stellvertreterkrieg um häusliche Objekte, der dermaßen eskaliert, dass körperliche Gewalt  nicht mehr zu umgehen ist. Lange hält die Frau dagegen, irgendwann jedoch kommt der Punkt, an dem sie physisch aber sichtbar auch psychisch am Ende ihrer Kräfte angelangt ist. Doch erst dieser scheinbar alles zerstörende Kampf bildet den Ausgangspunkt, um ein neues Kapitel in der Beziehung aufschlagen zu können.

Das sparsame Bühnenbild, das mit zwei verschiebbaren Zimmerwänden, einer Leiter und zwei altmodischen, grün bezogenen Armlehnstühlen auskommt, lenkt niemals vom Geschehen ab, wird aber geschickt in die Choreografie eingebaut. Als Martin Grandperret seine Geliebte verlässt, benutzt er die beiden von ihm parallel gestellten Wände um zwischen ihnen, hoch in der Luft, auf einem imaginären Rad in die vermeintliche Freiheit zu fahren. Als sie beide des Kämpfens überdrüssig sind, geschieht das Wunder. In einem banalen Gesellschaftstanz, der beiden die Regeln ihrer Schritte vorgibt, finden sie wieder zueinander. Regeln – das scheint es zu sein, was es braucht, um im richtigen Leben glücklich zu werden – scheint uns das Stück unterschwellig mitteilen zu wollen. Langsam schieben die zur Besinnung Gekommenen danach ihre gepolsterten Sessel, die links und rechts auf der Bühne standen, wieder Zug um Zug zueinander – um sie – wie bereits beschrieben, schließlich nebeneinander zu platzieren.

Für die Musik zeichnet Filippo Zapponi verantwortlich, der nicht zum ersten Mal mit Cie Blicke zusammenarbeitet. Quer durch die Jahrhunderte sampelt er Barockes, aber auch Zeitgenössisches bis hin zu elektronischen Sounds. Zumindest am Ende lässt er das Paar, durch seine musikalischen Erinnerungen unterstützt, an die schöneren Anfangszeiten wieder anknüpfen. Wie aus ferner Zeit ertönen Klangfetzen jener Barockarie, die die beiden am Beginn des Stückes im siebenten Himmel schweben ließ.

Als „Romanze“ kann diese Beziehung am Ende nicht mehr bezeichnet werden. Die rosa Wölkchen sind dahin und Angst- und Kampfschweiß hat den Veilchenduft ersetzt. Was bleibt, ist eine vordergründige Versöhnung, bei welcher der Arm der Frau über jenem des Mannes zu liegen kommt. Gewiss keine unbedachte Geste, sondern voll von Unausgesprochenem.

Ein tänzerisch extrem fordernder und gelungener Abend, an welchem die beiden Protagonisten kaum mehrere Minuten Zeit zum Atem holen haben. Ein auf den ersten Blick flacher Inhalt, der seine schwarz-weiße Maserung erst dann verliert, wenn man sich gerade auf diese intensiv einlässt. Das Leben ist doch nicht schwarz und weiß?


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