Das Leben ist ein Zimmer

Von Guidorohm

Das Leben ist ein Zimmer.
Ich sitze in meinem Zimmer. Ich blicke aus dem Fenster. Die Bäume eilen von Jahreszeit zu Jahreszeit. Nie finden Sie Ruhe. Sie sind ein Windspiel.
Sie sind ein Farbenspiel.
Die Bäume sind Finger, die in den Himmel weisen.
Unter den Bäumen stehen Bänke. Die Bänke sind mal leer, mal sitzen Leute darauf: Jugendliche, die sich anschreien, ein altes Ehepaar, den Blick verloren auf ihre eigenen Hände gerichtet. Die Haut ihrer Hände erinnert sie an die Borke der Bäume.
Und dann wieder einmal sitzt niemand auf der Bank. Und trotzdem spricht die Bank in diesem Augenblick von ihrer Zeit, die den Menschen keine Zeit zum Stillsitzen gibt.
Mein Zimmer ist leer.
Ich versuche mich an die Gegenstände zu erinnern, die sich in diesem Zimmer befunden haben.
Ich sehe mich in diesem Zimmer.
Ich stehe am Fenster und warte auf die Rückkehr von Laura. Sie wird nicht kommen, niemals mehr, aber das weiß ich in diesem Augenblick am Fenster noch nicht.
Mein Atem beschlägt die Scheibe. Ich schreibe ihren Namen auf die Scheibe.
Ihr Name bleibt nur als eine Ahnung zurück.
Eine Andeutung!
Ich sitze in meinem Zimmer. Ich sehe mich um. Ich bekomme manchmal Besuch.
Mein Besuch nennt sich Sohn. Ich will ihm glauben. Nur erinnern kann ich mich nicht an ihn.
Sein Gesicht ist mir fremd. Er macht mir Angst. Er sitzt an meiner Seite. Wir reden nicht, weil mir die Worte fehlen. Sie sind mir abhanden gekommen. Sie sind von mir abgefallen wie Blätter im Herbst.
Ich hoffe auf den nächsten Frühling.
Wenn der Mann, der sich Sohn nennt, gegangen ist, blicke ich in mein Zimmer.
Ich versuche einen Sinn in das Zimmer zu bringen.
Eine Ordnung!
Dort könnte mein Kinderbett gestanden haben. Ich stelle mir eine Mutter vor, die meine Mutter sein könnte. Sie beugt sich über mich. Sie gibt mir einen Gute-Nacht-Kuss. Sie lächelt mich an. Dann geht sie.
Sie kommt nie wieder.
Dieses Zimmer scheint für Menschen gemacht, die fort bleiben.
Meine Mutter!
Laura!
Also betritt nun eine alte Frau das Zimmer. Sie ist meine Großmutter. Ihr Geruch berührt mich unangenehm.
Ich schließe die Augen.
Ich öffne die Augen.
Ich sitze mit Laura in diesem Zimmer. Wir lieben uns in allen Ecken. Wir lieben uns auf dem Teppichboden.
Das Kinderbett ist noch da.
Das Kinderbett ist leer.
Laura starrt auf das Kinderbett. Sie lächelt nicht. Laura weint.
Laura geht.
Und ich stehe am Fenster meines Zimmers und warte auf ihre Rückkehr.
Das Zimmer wird zu meinem Zimmer.
Niemand verirrt sich in das Zimmer.
Dieses Zimmer schottet sich ab. Dieses Zimmer liegt fern von vielen anderen Zimmern.
Ich bin in meinem Zimmer alt geworden.
Das Zimmer verliert meine Haare. Das Zimmer isst kaum noch. Das Zimmer zieht sich in sich zurück.
Das Zimmer bereitet sich auf sein Sterben vor.
Und dann kommt ein Mann, der sich Sohn nennt.
Ich habe keinen Sohn!
Ich habe alle verloren.
Das sage ich nicht.
Ich sitze in meinem Zimmer und warte täglich auf den verlorenen Sohn, den ich nie anspreche.
Ich bin froh über seine Ankunft in meinem Zimmer.
Ich sehe zum Fenster hinüber. Ich könnte wieder einmal lüften. Ich könnte die Geräusche der Straße in mein Zimmer lassen. Ich könnte die Gespräche der Menschen einziehen lassen.
Vor meinem Zimmer stehen Bäume.
Unter den Bäumen stehen Bänke.
Auf den Bänken treffen sich Leute, die auf ihren Rücken ihre Zimmer durch das Viertel tragen.
Die Zimmer sind ihre Leben.
Sie können ihre Zimmer nicht zurück lassen. Sie sind die Zimmer. Und die Zimmer sind sie.
Wir verwachsen mit unseren Zimmern.
Unsere Arme wachsen an den Wänden entlang. Unsere Beine schlängeln sich um die Tischbeine.
Ich blicke in das Zimmer.
Das Zimmer ist leer.
Ich schließe die Augen. Ich stelle mir das Zimmer vor.
Das Zimmer füllt sich mit meinem Leben. Selbst mein Totenbett ist schon darin zu finden.
Ich kann in die Zeit hinein sehen.
Die Zeit ist ein Raum, den man überblicken kann.
Das alles würde ich gerne dem Mann erzählen, der sich Sohn nennt.
Ich habe die Worte verloren.
Sie liegen in meinem Zimmer.
Ich muss die Worte finden. Ich könnte sie in einer Schachtel verstauen.
Ich könnte die Worte wie ein Puzzle zusammen setzen.
Wie passen Worte zusammen?
Wann ergeben sie ein Gesamtbild?
Gehört die Liebe zum Verlust?
Ich weiß es nicht. Ich blicke zu meinen Schuhen. Diese Schuhe scheinen mir zu groß für meine Füße.
Ich schrumpfe.
Das Bett wird größer und größer.
Ich durcheile die Jahreszeiten.
Ich vergehe, um zu entstehen. Ich setze mich an einem jeden Tag neu zusammen.
Ich werde im Bett liegen und auf die Mutter warten, die mir einen Kuss auf die Stirn geben wird.
Sie wird gehen.
Ich werde bei der Großmutter aufwachsen.
Wieder und wieder.
Ich spüre die Kälte des Zimmers.
Die Tapeten lösen sich.
Das Zimmer verrottet.
Das Zimmer vergeht.
Ich vergehe.
Der Mann, der sich Sohn nennt, kommt nicht mehr. Der Mann, der sich Sohn nennt, sitzt in seinem Zimmer.
Ich kann es sehen, denn sein Zimmer befindet sich als Miniaturausgabe in meinem Zimmer.
Ich kann ihn sehen. Winzig klein. Dort sitzt der Mann, der sich Sohn nennt.
Er sitzt auf seinem Bett und wartet auf die Ankunft eines Mannes, der sich Sohn nennt.
Dieser Mann wird nie kommen.
Auch zu mir kam niemand.
Mein Zimmer wird von mir beliebig befüllt. Ich stopfe meine Träume und Gedanken in das Zimmer.
Ich hatte nie einen Sohn.
Laura ist fort.
Und bald gehe auch ich.
Das Zimmer wird verrotten. Das Zimmer wird sich in Luft auflösen.
Nichts verschwindet.
Das Zimmer wird die Grundlage von Erde, Tönen, Worten.
Vielleicht wird jemand über mein Zimmer schreiben.
Vielleicht wird es Fotos von meinem Zimmer geben.
Mein Zimmer ist ein Zimmer.
Mein Zimmer ist mein Leben.
Ich lebe in meinem Zimmer.
Ich bin das Zimmer.
Ich sitze in meinem Zimmer und warte.
Ich sehe hin zur Tür. Ich stehe auf.
Endlich!
Nach so vielen Jahren.
Ich gehe hin zur Tür.
Ich öffne die Tür.
Ein langer tunnelartiger Flur. Am Ende des Ganges leuchtet ein Licht.
Ich gehe aus meinem Zimmer.
Ich werde jetzt das Gebäude erforschen.
Das Gebäude läuft mit Zimmern über.
Ich gehe. Ich lausche.
Ich lausche an so vielen Türen.
Stimmen drängen sich an mein Ohr. Die Stimmen überschlagen sich.
Die Stimmen sagen: Ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie.
Ich laufe und laufe.
Ich schlendere.
Ich horche.
Türen öffnen sich. Leute nicken mir zu. Wir gehen gemeinsam weiter.
Eine Tür öffnet sich.
Eine Frau, die mich an Laura erinnert.
Sie legt den Zeigefinger auf ihre Lippen.
Wir kommen am Fahrstuhl an.
Wir überlegen. Wir könnten nach oben fahren. Hinauf! Wir könnten nach unten fahren. Hinunter!
Ich bin unschlüssig. Ich drehe mich auf dem Absatz. Ich werde in mein Zimmer gehen.
Ich irre fortan durch die Flure und Gänge dieses Gebäudes.
Dieses Gebäude ist das Universum.
Ich will in mein Zimmer zurück.
Jetzt!
Sofort!
Augenblicklich!
Hey, Sie da, wie finde ich in mein Zimmer zurück?
Ein alter Mann bittet mich herein.
Sein Zimmer ist leer.
Kahl!
Ich setze mich neben ihn auf das Bett.
Der Mann erzählt mir von seinem Zimmer.
Der Mann sagt: Das Leben ist ein Zimmer.
Ich nicke nur stumm.
Dann erklärt der Mann mir sein Zimmer.
Ich werde in diesem Zimmer bleiben. Ich werde mit dem Mann aus dem Fenster sehen.
Wir werden uns dieses Zimmer teilen.
Mehr Sinn kann ich nach all den Jahren nicht in diesem Gebäude erkennen.
Das Gebäude ist angefüllt mit Zimmern.
Wir sollten näher zusammen rücken, um uns gegenseitig zu wärmen.
Wir können uns unsere Zimmer erklären.
Wir können uns beim Sterben helfen.
Wir wohnen in einem Zimmer aus Zeit.
Wir sind nicht mehr alleine in der Zeit.
Wir befüllen das Zimmer mit Möbeln und Geschichten.
Irgendwann werden wir uns streiten.
Irgendwann werden wir uns an die Hälse gehen.
Wir werden würgen und schreien.
Jetzt nicht.
Jetzt lege ich meinen Kopf in den Schoß des Mannes, der mir sein Zimmer angeboten hat.
Ich stelle mir vor, er wäre Laura.
Sie lächelt hinab. Wir küssen uns. Wir lieben uns. Wir lieben uns in allen Ecken. Wir lieben uns auf dem Teppich.
Laura bleibt, denn Laura ist nun ein Teil dieses Zimmers. Ich habe sie in dieses Zimmer gedacht. Ich habe sie in dieses Zimmer gezaubert.
Laura und ich werden alt werden.
Wir werden ein Kind bekommen.
Ich werde besucht werden, von einem Mann, der sich Sohn nennt.
Da bist du ja endlich, werde ich sagen.
Ich werde mich an ihn legen. Dann werde ich in mein Zimmer blicken und lächeln.
Dies ist mein Zimmer.
Das Zimmer ist mein Leben.
Ich will dir von meinem Zimmer erzählen.