Le fil sous la neige von Antoine Rigot im Le-Maillon (c) Jean Pierre Estournet
Obwohl es draußen bitterkalt ist, herrscht im kleinen Zirkuszelt mit der hohen Kuppel angenehme Wärme. Als das Licht ausgeht, bewegt sich ein Mann ungelenk auf die Bühne. Es ist Antoine Rigot, ein ehemaliger Drahtseiltänzer mit Leib und Seele, der bei einem Unfall im Jahr 2000 schwerste Verletzungen davon trug. Von einer Sekunde auf die andere waren seine Träume zerplatzt und es schien, als wäre die Arbeit mit dem Drahtseil für ihn Vergangenheit. Doch mit Mut, Zähigkeit, Ausdauer, einem festen Willen und dem Zuspruch seiner Partnerin Agathe Olivier schaffte er etwas Unglaubliches. Aus dem Menschen, den das Schicksal vom Seil geworfen hatte, wurde eine Persönlichkeit, die ihr Leben umstellte und nun unterhalb der Seile alle Fäden in der Hand hält. Mit wenigen Worten schildert er zu Beginn in der Manege sein Lebensszenario, seinen Unfall, poetisch und ergreifend, um dann die Bühne frei zu machen für 7 Drahtseilakrobaten – 3 Männer und 4 Frauen. Rigot inszenierte das Stück „Le fil sous la neige“ unter dem Eindruck des gleichnamigen Romans von Maxence Fermine, in dem es um die Kunst des Haiku, einer japanischen Gedichtform, ebenso geht wie um die tragische Geschichte einer jungen Seiltänzerin. Mit der Truppe „Les colporteurs“ schuf er eine Hommage an die Drahtseilkunst, aber zugleich auch eine Hommage an das Leben an sich. Normalerweise agieren Hochseilartisten alleine und ziehen die Aufmerksamkeit des Publikums ausschließlich auf sich – in diesem Fall jedoch werden alle bisherigen Regeln auf den Kopf gestellt. Sie agieren zu zweit, zu dritt, viert, fünft, sechst und siebent gleichzeitig auf einem Seil – auch nur der kleinste Fehler von einem oder einer Einzigen würde alle zu Fall bringen. Wie viel Vertrauen aber auch Training muss wohl in dieser Leistung stecken!
Der Abend ist so locker und flockig inszeniert, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, auf einem Seil zu arbeiten. Die Akrobaten laufen, kriechen, sie ruhen sich auf dem Rücken liegend darauf aus. Sie machen atemberaubende Salti oder rutschen eine halbe Seillänge auf dem Kopf, die Beine vom Körper abgespreizt. Sie gehen auf der Spitzte von roten Ballettschuhen über das Seil, dass jede Primaballerina neidisch werden könnte. Sie bespielen alle sieben Seile, die in unterschiedlichen Höhen gespannt sind, springen von einem höher Liegenden zu einem darunter, oder auch umgekehrt. Sie imitieren Anfänger, die noch die Hilfe und Stütze der anderen bedürfen, um heil über das Seil zu kommen und rudern damit wie wild mit ihren Armen, um nur ja das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ein Riesenspaß – vor allem für die Kinder – die noch ganz nahe an der Erfahrung des labilen Gleichgewichts leben. Aber nicht nur für die Kleinen gibt es Momente, die richtig berühren. Sich lieben und aufeinander vertrauen, in einem halsbrecherischen Übergang dargestellt, in welchem einer der Seiltänzer seiner Partnerin, die auf dem Seil liegt, mit ganzem Gewicht auf ihre Brust steigt, um über sie sicher hinwegzusteigen, ist einer davon. Ein Pas-de-deux , in welchem das Paar, das sich aneinander festhält, im verschränkten Gleichschritt über das Seil balanciert, ist ein anderer. Bilder wie diese verdeutlichen aber zugleich auch unseren eigenen Hochseilakt von Liebe und Zweisamkeit, ganz abseits von einem circensischen Höhenrausch.
Antoine Rigot erzählt an diesem Abend nur ausschnittweise seine Geschichte, vielmehr er lässt er seinen Künstlerinnen und Künstlern Raum genug, sich selbst – in Anlehnung an die kurzen Haikus, darzustellen. Julien Posada tut dies als vor Energie überschäumender Spaßvogel. Seine hohen Salti und weiten Sprünge lassen den Atem stocken. Sanja Kosonen als Seilerklimmerin mit langen, roten, wallenden Haaren, welche das schräg gespannte Seil ohne Schuhe hochläuft, als wäre sie eine flinke Gämse und keine zierliche Frau, hingegen zeigt ein völlig anderes, ganz natürliches Selbstverständnis auf dem Seil. Florent Blondeau und Andreas Muntwyler laufen und kämpfen immer wieder um die Gunst der schönen Damen Molly Saudek und Ulla Tikka, die ihre Jugend und Fragilität mit schönen Gesten gekonnt ausspielen. Agathe Olivier wacht über das Geschehen als Grande dame mit einer Eleganz, die ihr sogar erlaubt, mit High Heels über die Seile zu stolzieren. Begleitet werden sie von der Liveband „Wildmimi Antigroove Syndicate“, die zu dritt für musikalisches Feingefühl sorgen und dabei in jeder Sekunde die Akrobatinnen und Akrobaten im Auge behalten.
Antoine Rigot, der am Ende der fulminanten Show noch einmal die Bühne betritt, um klar zu machen, dass er seinen Platz gefunden hat – als „Primus inter pares“ unter dem Seil – muss jedoch nicht nur für seine Inszenierung bewundert werden. Er hat es auch geschafft, all den Akteuren die Angst zu nehmen, die sie sicherlich befallen hat, als sie von seinem Unglück hörten, bzw. damit konfrontiert wurden. Sein Körper, dem es nicht mehr möglich ist, über ein Seil zu gehen, spiegelt in jeder Sekunde auch ihre eigene Verletzlichkeit und Fehlbarkeit wider. „Le fil sous la neige“ ist damit ein Meisterwerk nicht nur artistischer sondern auch psychologischer Art.
Hier ein kleiner Eindruck:
Verfasser: Michaela Preiner
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Schlagwörter: Antoine Rigot, Hochseilakrobatik, Le fil sous la neige, Le-Maillon Strasbourg, Les colporteurs
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