Als ich das erste Mal im Stuttgarter Lapidarium war, konnte ich kaum glauben, dass es mitten in der Stadt einen solchen Ort gibt: Hinter einer ganz hübschen, aber wenig auffälligen Mauer eröffnet sich ein großzügiger Garten, der wie ein magischer Ort wirkt – ein großartig gefliester Wandelgang mit einer „Antikenwand“ begrenzt das Lapidarium nach Süden, nach Norden entfaltet sich eine kleine Parklandschaft mit altem Baumbestand, Zierhecken und -sträuchern, Brunnen, Treppen und Mauern und mit zahlreichen Steindenkmälern der Stadt, die hier einen stilvollen Platz bekommen haben.
Hier versammeln sich Überreste zerstörter Gebäude, Skulpturen, Inschriften, Grabplatten und Fragmente von Torbögen vor malerischer Kulisse – mehr als 200 Exponate machen das Lapidarium zu einer Art steinernem Bilderbuch und zum einzigen Freilichtmuseum der Landeshauptstadt, das mittlerweile auch als besonders inspirierende Kultur-Oase gilt.
Der Museumsführer „Städtisches Lapidarium“ aus dem Silberburg Verlag erzählt jetzt die Geschichte dieses außergewöhnlichen und musealen Gartens und schließt so manche Wissenslücke die beim einen oder anderen Besucher entstanden sein dürfte. Zwar gab es bisher eine Webseite und einen Wiki-Eintrag, die allerdings nur eine kurze Infoübersicht boten.
„In stilvoller Halbhöhenlage residieren sozusagen die wertvollen Steinzeugen aus vorigen Jahrhunderten – es hätte kein besserer und schönerer Platz für die eindrucksvollen Reste historischer Baukultur und künstlerischer Steinmetzarbeit gefunden werden können, als der idyllische Park in der Mörikestraße“, schreibt Werner Koch, Vorsitzender des Vorstands PRO STUTTGART- Verkehrsverein e.V. in seinem Vorwort.
„Keine andere Stadt verfügt über eine ähnlich vielfältige Sammlung in einer solchen, dazu noch historischen Gartenanlage. Dieser Park fasziniert einheimischen und auwärtige Besucher in gleichem Maße.“ Der neue Museumsführer eignet sich deshalb als Vorbereitung für einen Besuch und/oder als Erinnerung an einen der schönsten Orte in Stuttgart.
Angefangen hat alles damit, dass der einflussreiche Stuttgarter Unternehmer Gustav Siegle unter anderem große Teile des Hügels zwischen Reinsburg- und Mörikestraße kaufte und dort zuerst eine Ville baute, die allerdings im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Ihr folgte ein Wohnhaus für Siegles älteste Tochter Margarethe und deren Mann, später die Gartenanlage, die Schwiegersohn Karl Ostertag-Siegle im Stil italienischer Renaissance-Villengärten gestalten ließ.
Die meisten Steindenkmäler der Anlage stammen aus der Zeit der Altstadtsanierung, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund 200 alte Gebäude für den Neubau des Rathauses abgebrochen wurden – noch heute ein schmerzvoller Verlust für das architektonische Herz der Stadt. Die Gebäudeteile wurden gesammelt und vorerst im Kreuzgang des ehemaligen Dominikanerklosters in der Hospitalstraße aufgestellt.
Niemand wusste genau, was sich da versammelte und niemand fühlte sich für die Sammlung zuständig. Tatsächlich wurden das gesamte Gebäude und fast die ganze Sammlung im Krieg zerstört – die wenigen Stücke, die gerettet werden konnten, fanden schließlich ihren Platz im „wiedergeborenen“ Lapidarium: Der liberale Journalist Gustav Wais durfte während der NS-Zeit nicht schreiben und widmete sich in dieser beruflichen Zwangspause der Stadtgeschichte. Er war seit 1947 Mitglied der Kommission zur Erhaltung von Kunstwerken und mahnte in einem Schreiben an Bürgermeister Arnulf Klett die Wiederaufrichtung eines städtischen Lapidariums an.
Dem Engagement des rührigen Journalisten ist es zu verdanken, dass fünf Jahre nach Kriegsende das neue Städtische Lapidarium im historischen Siegle-Garten eröffnet werden konnte. Gustav Wais leitete das Lapidarium auch bis zu seinem Tod, seither wird es vom Stadtarchiv Stuttgart verwaltet. Die Sammlung umfasste vor allem den Kreuzgang des Dominikanerklosters, die historischen Trümmerreste, Kunstwerke aus der Villa Berg sowie während des Krieges im Wagenburgtunnel eingelagerte Teile. 1995 kamen weitere Stücke dazu, zum Beispiel aus Privatbesitz.
Foto: Lapidarium Stuttgart
Gustav Wais legte 1954 außerdem eine Inventarliste an, die 50 Jahre später auf Wunsch der interessierten Öffentlichkeit von Dr. Axel Klumpp und Restauratorin Juliane Weigele aktualisiert wurde. Die Erläuterungen zur Antikensammlung im Wandelgang übernahm Jutta Ronke vom Landesdenkmalamt.
Auf 114 Seiten informiert der Museumsführer über Herkunft der Grabinschriften, Gebäudefragmente, Putten, Brunnenfiguren, Säulen, Wasserspeier, Türschluss-Steine, Reliefs, Prunkschalen und Figuren, die dem Lapidarium seinen besonderen Reiz verleihen – darunter der Ritter vom Alten Rathaus, die Brunnenfiguren Hermes und Pallas Athene, eine marmorne Siegesgöttin, das Relief, Türsturz und Türfragment, ein Sockelstück und Kapitell vom Neuen Lusthaus sowie zwei Vasen und eine „Skandalöse Venus“ aus dem Garten der Villa Berg.
Auch ein Fragment von Danneckers „Nymphengruppe“, Reliefs vom Hauptportal der Technischen Hochschule, die Gründungstafel vom Bebenhäusener Hof, das Portal vom Gasthof „König von England“ – wo illustre Gäste wie Jean Paul oder Frédéric Chopin übernachtet haben sollen – sowie ein Torflügel vom Rosensteinpark und Fragmente vom ehemaligen Königstor sind hier zu sehen.
Um die Übersicht vor Ort zu erleichtern verbergen sich in der Klappenbroschur vorne ein kleiner Ausschnitt der Stadtkarte und hinten ein Übersichtsplan des Lapidariums, in dem die Nummern der Exponate am jeweiligen Standort eingezeichnet sind.
Zwei Links verweisen auf kurze Filme, die über das Lapidarium gedreht wurden: Studierende der Fachschule für Farbe und Gestaltung drehten die Doku „Das steinerne Bilderbuch Stuttgarts“, der Film „Und lebte Tage wie in Rom“ von Steffen Jahn wird musikalisch begleitet vom Stuttgarter Kammerorchester.
Die Filme, einen virtuellen Rundgang, Führungs- und Veranstaltungstermine gibt es auf www.lapidarium-stuttgart.de
Stadtmuseum Stuttgart / PRO STUTTGART e.V.(Hrsg.) „städtisches lapidarium. museumsführer“, 120 Seiten, zahlreiche Farb- und Schwarzweiß-Fotos, broschiert, 9 Euro 90, Silberburg-Verlag