Fast 30 Jahre nach Entführung: Kirchenstaat kooperierte nicht mit italienischen Behörden
Kommt nach fast 30 Jahren Licht in ein düsteres Kapitel des Vatikans?
Die 15-jährige Tochter eines Vatikan-Bediensteten war 1983 nach dem Musikunterricht entführt worden und nie mehr aufgetaucht. Wenig später berichteten Medien, dass die türkische Extremisten-Organisation Graue Wölfe dem Vatikan die Freilassung des Mädchens im Austausch gegen den Papst-Attentäter Ali Agca angeboten habe.
Mafia für Entführung verantwortlich
Nach Ermittlungen der Staatsanwälte war die Entführung jedoch von der römischen Mafia geplant. Deren Boss Enrico De Pedis habe den damaligen Chef der Vatikan-Bank, Paul Marcinkus, nach dessen undurchsichtigen Geldgeschäften erpressen wollen. Der wenig später von Rivalen erschossene Mafia-Boss war als Wohltäter der Basilika Sant'Apollinare beigesetzt worden.
Die Ex-Lebensgefährtin des Bosses hat die Entführung des Mädchens durch die Mafia bestätigt. Sie selbst habe Emanuela Orlando aufgefordert, in ihr Auto zu steigen. Die Leiche des Mädchens sei später einbetoniert worden.
Weigerung des Vatikans zu Kooperation
Vor kurzem gelangte ein für den Papst bestimmter Vermerk von Vatikan-Sprecher Federico Lombardi an die Öffentlichkeit, der "das Verhalten des Vatikans im Fall Orlandi aus 'menschlicher und christlicher Sicht als kritisierbar'" wertet. Vor allem die Weigerung, mit den italienischen Behörden zusammenzuarbeiten, habe sich negativ ausgewirkt.
"Das peinliche Schweigen des Vatikans muss jetzt endlich beendet werden", forderte der 26-jährige Bruder der Entführten, der ein Buch über den Fall geschrieben hat. Seine Petition an den Papst wurde von 65.000 Personen unterzeichnet. Der Vater von Emanuela Orlandi war im vatikanischen Staatssekretariat beschäftigt. Mit Ausnahme einiger Nonnen waren seine beiden Töchter die einzigen weiblichen Vatikan-Staatsbürger.
Verschwörungstheorien rund um Entführung
Kardinal Giovanni Battista Re, zum Zeitpunkt der Entführung einer der einflussreichsten Vertreter der Kirchenführung, weist den Vorwurf der Omertá im Vatikan zurück: "Wenn jemand um die Hintergründe gewusst hätte, hätte er sicher ausgesagt. Wir selbst haben nie begriffen, wer hinter der Entführung stand."
Um den Fall rankten sich über Jahre zahlreiche Verschwörungstheorien. Einem anonymen Anruf, wonach sich die Leiche des Mädchens in der Gruft des Mafiabosses befinde, will die Staatsanwaltschaft aber nicht nachgehen - wohl zur Enttäuschung aller Dan-Brown-Fans. (Gerhard Mumelter aus Rom, DER STANDARD, 4.4.2012)