Das Land der Kanzlerin

Den folgenden Beitrag habe ich am 16. September 2015 für Ohrfunk geschrieben. Ich dachte, es wäre an der Zeit, auch positives mal zu schreiben. Aber alles ändert sich immer so schnell. Deshalb füge ich das hier zu Dokumentationszwecken ein.

“Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.” Hat sie das wirklich gesagt? Hat Angela Merkel wirklich mit diesen Worten einen weiteren Schwenk in der Flüchtlingspolitik verteidigt? Und wenn ja, warum?

In den letzten Wochen gerate ich im Bezug auf die sogenannte Flüchtlingskrise von einem Gefühlschaos ins nächste. Zunächst war und bin ich entsetzt, wieviel Hass den Flüchtlingen in Deutschland entgegenschlug und -schlägt. Aber vor ungefähr drei Wochen war es, als hätte irgendwer einen Schalter umgelegt. Die Medien berichteten positiv über Flüchtlinge, sogar die Bildzeitung hieß sie in Deutschland willkommen, und die Ablehnung verwandelte sich fast über Nacht in eine Willkommenskultur und eine unglaubliche Hilfsbereitschaft. Die hatte es zuvor auch gegeben, aber sie war nie so deutlich in den Medien gezeigt worden. Dadurch, dass Deutschland sich selbst feierte, schien es tatsächlich weltoffener zu werden. Dann öffnete die Regierung sogar die Grenze für die Flüchtlinge, die in Ungarn ohne ausreichende Versorgung und unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen festsaßen. Und als ich gerade den Entschluss fasste, die Regierung im Radio und auf meinem Blog öffentlich dafür zu loben, führte sie plötzlich wieder Grenzkontrollen ein und schien die Grenze schließen zu wollen, koste es was es wolle. Doch schon einen Tag später fiel dieser bemerkenswerte Satz, den ich mir seither immer wieder auf der Zunge zergehen lasse. Bei einer Pressekonferenz mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann antwortete Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Meisterin der verborgenen Emotionen und der nichtssagenden Statements, auf die Frage, was sie zur CSU-Kritik an ihrer Aufnahmeentscheidung sage: “Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.” Weißt’e bescheid, Seehofer!

Und ich frage mich: Was will uns die Kanzlerin damit sagen?

Der massenhafte ansturm von Flüchtlingen auf Deutschland hat so viele Aspekte, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Die Frage kann nicht sein, ob wir sie ins Land lassen oder nicht, diese Optionen haben wir nicht. Die Frage kann nur lauten, wie wir damit umgehen, wie wir die Zuwanderung steuern und gegebenenfalls begrenzen, und zwar nicht aus
Fremdenfeindlichkeit, sondern aus Kapazitätsgründen. Es ist das gute Recht linker Politiker und Aktivisten, eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen zu fordern, ohne andere europäische Länder ebenfalls zu einem solchen Schritt anzuhalten. Vernünftig ist ein solcher politischer Aktionismus nicht. Unsere Kommunen haben viel zu wenig Aufnahmekapazitäten, und im Gefolge der einführung der Schuldenbremse auch viel zu wenig Geld, um dieses Problem allein zu lösen, selbst wenn millionen Deutsche ihre Unterstützung anbieten. Eine einfache Grenzöffnung kommt also nicht in Betracht, weil inzwischen tatsächlich geschieht, was rechte Stammtische immer behauptet haben: Fast alle Flüchtlinge wollen nach Deutschland. Das hat damit zu tun, dass die Bilder der ungehinderten Einreise der letzten Zeit um die ganze Welt gegangen sind, und dass der Rassismus und der Fremdenhass gerade in den osteuropäischen Ländern, durch die die Flüchtlinge zuerst auf ihrer Reise kommen, viel größer ist als hier. Zwar haben wir es immer wieder geschafft, größere Gruppen aufzunehmen, die Vertriebenen und die Spätaussiedler sind dafür gute Beispiele, aber zumindest der Zuzug der Spätaussiedler vollzog sich über einen viel längeren Zeitraum.

Andererseits ist auch klar: Politisch Verfolgte genießen Asyl. Selbst in seiner abgeschwächten Form ist dieses Asylrecht immer noch ein Grundrecht. Es schließt auch die Kriegsflüchtlinge mit ein, und es muss klar sein, dass all diese Flüchtlinge, die in ihren Heimatländern nicht mehr sicher sind, irgendwo ein gesichertes, angstfreies Leben beginnen können. Und genau in dieser Hinsicht sind die Worte der Kanzlerin bemerkenswert. Sie hat deutliche Emotionen gezeigt, sie hat sich lautstark gegen die Hardliner in der eigenen Partei und in Europa zur Wehr gesetzt, sie hat den Deutschen ins Stammbuch geschrieben, dass ihr Land ein Land der Humanität ist, wo man sich dafür weder rechtfertigen noch entschuldigen muss. Sie hat ihren üblichen politischen Weg des Offenhaltens aller Optionen verlassen, sie hat sich klar positioniert. Flüchtlinge, die nach Deutschland einreisen wollen, werden auch jetzt an der Grenze nicht abgewiesen, sie werden nur geordnet registriert und verteilt, zumindest in der Theorie. Alles, was dabei nicht funktioniert, ist ein logistisches Problem. Mir ist wichtig, dass Angela Merkel endlich Stellung bezogen hat, dass sie endlich einmal Werte verkörpert. Natürlich bedeutet das nicht, das sie einfach die Grenzen öffnen wird, sie muss auch ständig wieder mit einem Umschlagen der öffentlichen Meinung in Deutschland rechnen, und sie bleibt eine berechnende Politikerin. Und weil es keine einfachen Lösungen gibt, wird sie in den Augen der ewigen Kritiker, der Berufsnörgler, die es selbst immer besser gemacht hätten, immer Fehler machen. Was mir ein wenig Hoffnung gibt, auch wenn wir über den politischen Weg und im Bezug auf das Ausmaß der Einreise von Kriegsflüchtlingen oft unterschiedlicher Meinung sein werden, ist das Eintreten der Kanzlerin für das humane, das weltoffene Deutschland. Ohne diese Humanität, so sagt sie deutlich, ist dieses Land nicht ihr Land, und es ist gut, das zu wissen.

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