In der Oper Halle ist alles ein bisschen anders als das, was man im Allgemeinen von der Sparte Musiktheater erwartet. Nun hat sich das neue Leitungsteam um Florian Lutz ausgedacht, nicht weniger zu präsentieren als das Kunstwerk der Zukunft. Wenn das nicht mal hohe Erwartungen aufbaut! Dabei gab es ja schon vor gut 150 Jahren den ernsthaften Versuch, die Kunstwelt mit diesem Leitspruch umzukrempeln. Richard Wagner veröffentlichte damals eine Schrift mit diesem Titel, deren Thesen er in seiner Tetralogie Der Ring des Nibelungen umzusetzen suchte. In seiner theoretischen Abhandlung propagierte er nicht nur das Gesamtkunstwerk, also die Vereinigung aller Kunstrichtungen, sondern kritisierte auch die zeitgenössische Kunst, die als bloßes Kulturprodukt nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hatte und die Lieschen Müller oder Otto Normalverbraucher nicht verstehen, weil man dazu eben einen ganz besonderen abgehobenen Bildungshintergrund haben musste. Kommt das vielleicht bekannt vor? Daneben soll es dann laut Programm auch noch um Karl Marx und das Kapital gehen. Seine Differenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Klassen und seine Kritik an diesem Zustand geht tatsächlich viel besser mit Wagners oben genannter Feststellung zusammen, als ich auf den ersten Blick dachte. So viel also ganz grob zur Theorie dieser Inszenierungsreihe. Wie kann man es sich also vorstellen, dieses Kunstwerk der Zukunft?
Schön wie die Begegnung einer Heißklebepistole mit einem Panzer auf einem Schreibtisch
Es mag hilfreich sein, aber man muss weder Wagner noch Marx gelesen haben, um neugierig zu sein auf dieses neue Format der Oper Halle. Ich hatte schon im Oktober vergangenen Jahres die erste Ausgabe der Reihe gesehen und war danach ehrlich gesagt ziemlich verstört. Wo war der Inhalt? Wo der Zusammenhang? Was war die Botschaft? Wo war der Anfang, wo das Ende? Ich verbrachte ein paar Tage in Frustration und Irritation bis ich einsehen musste, dass genau das beabsichtigt war und ich einfach nur all meine Erwartungen an einen Musiktheaterabend über Bord werfen musste. Deswegen war ich diesmal auch gar nicht überrascht, dass alles anders war als das letzte Mal.
Ich schlüpfe am Eingang durch die Papppforte und schaue mir ein paar handgeschriebene Einkaufszettel und To-do-Listen an, welche die Wände eines Raumes bedecken. Aufräumen, putzen, Wäsche, Laptop Akku. E-Mail Mama, Fachschaftssitzung, Pony schneiden. Im zentralen Raum des von Christoph Ernst gestalteten Operncafés sind die Stühle diesmal in Richtung einer minimalistischen Bühne gerichtet, an der Clemens Meyer - der Moderator und Kalauerkönig des Abends - an einem chaotischen Schreibtisch sitzt und mit einer Heißklebepistole versucht das Modell eines Panzers zusammenzubauen. Rechts von ihm sitzen seine Bier trinkenden Sidekicks, der Dramaturg Johannes Kirsten und DJ Enrico Meyer, letzterer steuert einen Klangteppich von Trance- und Elektrosounds bei. Links von Clemens Meyer improvisiert Schlagzeuger Ivo Nitschke schon ein wenig vor sich hin. Irgendwann versucht Kirsten gespielt unauffällig dem behäbig bastelnden Autor zu soufflieren. „Clemens! Das Kunstwerk der Zukunft!" Woraufhin dieser nur müde abwinkt. „Alles Unsinn." Für manche mag das wie das Motto des Abends wirken, denn im weiteren Verlauf geht es zuerst lange um den richtigen Gebrauch und die symbolische Bedeutung der erwähnten Heißklebepistole, um die Bastlerlust am Panzermodell, um sieben schwule Zwerge, um den (Coq-)Ring, den Alberich sich aus dem Rheingold geschmiedet hat und um das Danziger Goldwasser, dass er nebenbei auch erfunden hat. Zum Thema Gold passt dann ein vergnügliches Interview mit dem ehemaligen Braunkohlebaggerfahrer Frank Hankel, der im besten Dialekt davon erzählt, wie er sich mit dem gigantischen Bagger verbunden fühlte und nach unterirdischen Schätzen buddelte. Zwischendurch singt Vladislav Solodyagin auch noch ein bisschen Wagner in den Raum hinein, bevor sich Clemens Meyer mit einem Sektkorken fast das eigene Ohr wegschießt. Ohne Ende plaudert er ins Mikrofon, kommt von einer Assoziation in die nächste, liest einen Absatz von einem zerknüllten Blatt Papier ab, blättert in Opernanthologien, wühlt in einem Pappkarton mit Zwergen, Schnee und Goldwasser. Und irgendwann ist es dann vorbei, dieses Kunstwerk der Zukunft Nummer 6, obwohl es auch die ganze Nacht so hätte weitergehen können.
Man kann das alles jetzt genial und total avantgardistisch finden oder einfach nur saublöd. Darum geht es gar nicht. Die Oper Halle hat mit dieser Reihe einen ehrlichen Raum für Experimente geschaffen hat, der dem Publikum eine andere Perspektive auf das Theatererleben an sich anbietet. Bestimmt ist nicht alles, was hier passiert, der letzte Geniestreich und Ergebnis einer langen, intensiven Probenzeit. Es ist ein Spielort im wahrsten Sinne des Wortes, wo sich nicht nur Bühnenkünstler aller Art und Herkunft austoben und ausprobieren können, sondern wo auch der Zuschauer Lust bekommt, mitzuspielen.
Das Kunstwerk der Zukunft VI. Inszenierungsreihe im Operncafé der Oper HalleKünstlerische Projektleitung: Michael von zur Mühlen
Raumkonzept: Christoph Ernst
Von und mit: Frank Hankel, Johannes Kirsten, Clemens Meyer, Enrico Meyer, Ivo Nitschke, Vladislav Solodyagin
Besuchte Vorstellung: 21. März 2017 (Premiere)