Kochbücher in Zeiten der Digitalisierung
Seit ich mich intensiv mit Essen und Kochen auseinandersetze, hat sich meine Art, Koch-Content zu konsumieren, drastisch verändert. Wahrscheinlich auch deshalb, weil mitten in eine Zeit des digitalen Wandels hineinplatzte. Ich lernte also Kochen mit Tablet und Smartphone in der Hand. Zwar besitze ich heute rund 10 Kochbuch-Schmöker, die ich regelmäßig lese, doch nur in den seltensten Fällen lese ich sie beim Kochen. Kein Witz: Kochbücher sind für mich gute Nacht-Lektüre. Das klassische Rezepte-Kochbuch hat allerdings ausgedient – zumindest in meinem Universum.
Rezept-Bücher werden aussterben
Ich habe ganz bewusst den Vergleich gesucht und mich nach Feierabend mal durch meine Sammlung Rezept-Kochbücher geblättert. Das Ergebnis war ernüchternd. Unterm Strich blieb ich alle 10 Seiten hängen, um mir ein Rezept genauer anzuschauen. Der Rest war Ausschuss. Mal gefiel mir das Bild nicht, mal erschien mir die Kombination aus Zutaten seltsam oder langweilig. Eine Trefferquote von gerade mal 10%? Das reicht in Zeiten der Online-Rezeptrecherche einfach nicht mehr aus, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Ich habe im Verlauf dieses Textes bewusst die Unterscheidung zwischen Rezept-Kochbuch und Kochbuch getroffen, denn darin liegt für mich der Schlüssel für die Zukunft des Kochbuchs. Eine reine Aneinanderreihung von Rezepten mit Zutaten und Zubereitungsanleitung kann heute nur noch im Ausnahmefall zum Erfolg führen. Google liefert mir für jede nur vorstellbare Kombination ein Rezept binnen Sekunden. (Spontaner Versuch: „Artischocke, Blaubeeren, Frischkäse“). Kostenlos! Der Mehrwert eines reinen Rezept-Kochbuchs ist viel zu oft gleich null.
Die Frage ist: Was kann ein Kochbuch besser als das Internet? Wo beginnt das Netz zu schwächeln? Wo liegt der Unique Selling Point von analogem Koch-Content? Es gibt in meinen Augen eine Reihe von Ansatzpunkten, die sich mit einem Satz zusammenfassen lassen: Kochbücher müssen heute tiefer schürfen als Facebook & Co. Wie muss das Kochbuch der Zukunft also aussehen?
Spezifisch
„Die besten Pasta-Rezepte“ ist ein gutes Beispiel für einen völlig unspezifischen Kochbuch-Ansatz. Der Streuverlust ist enorm, denn unter Pasta-Fans gibt es Allergiker, Italien-Fans, Vegetarier, die die es gerne deftig mögen, Weizenmehl-Verweigerer etc. Bei 100 Pasta-Rezepten wird man keinem von ihnen gerecht werden können. 15 Euro wird in Zukunft niemand mehr ausgeben, wenn er/sie sich nicht zu 100% in der eigenen Genusszone abgeholt fühlt.
Je spezifischer der Zugang, desto genauer lässt sich eine Zielgruppe treffen und glücklich machen. Das ist ein Grund dafür, dass spezifische Ernährungsthemen wie Low-Carb oder Paleo momentan so gut funktionieren. Wer ein Low-Carb-Buch kauft, tut das vor allem aus Abnehm-Gründen und nicht vorrangig aus Genuss-Gründen. Da spielt es eine untergeordnete Rolle, ob jedes Rezept exakt den persönlichen Geschmack trifft. Das Versprechen ist: Diese Rezepte enthalten wenig Kohlenhydrate und jedes einzelne Rezept erfüllt dieses Versprechen. Der Leser bekommt exakt das, was er will und zwar auf 100 von 100 Seiten und dazu noch eine Einordung über Stoffwechselprozesse im Körper. So macht man Leser glücklich.
Wissenschaftlich
Apropos Stoffwechsel: Bücher wie „Fermentation“ von Heiko Antoniewicz, „Sous-vide“ von Hubertus Tzschiner oder „Das Festival-Kochbuch“ von Stevan Paul ziehe ich immer wieder als Beispiele für einen Kochbuch-Ansatz heran, der Zukunft hat. In diesen Büchern stehen nicht die Rezepte an vorderster Stelle, sondern ein Thema, das mit wissenschaftlichem Touch akribisch aufgearbeitet wird. Während das Internet den Leser mit dem Rezept oft alleine lässt, ist das Rezept in diesen Büchern nur der Einstiegspunkt zu einem Exkurs in unbekanntes Terrain, an dessen Ende ein echter Erkenntnisgewinn steht. Will ich verstehen, was hinter dem Prozess des Sous-vide-Garens steckt, kann ich mir die Informationen natürlich auch mühsam im Internet aus 10 Quellen zusammenklauben und hoffen, dass kein König des Halbwissens am Werk war. Oder aber ich investiere in ein Buch, zapfe das Wissen eines anerkannten Experten an und genieße 100 Seiten ausgefeilter Ausführungen, denen ich vertrauen kann. Will ich selbst zu einer Art-Mini-Experten werden, führt auch in Zeiten des Internets kein Weg an einem Koch-Fachbuch vorbei. Bücher genießen (in den meisten Fällen) zurecht einen Vertrauensvorschuss.
Kochen können und fundiertes Hintergrundwissen über Lebensmittel und Garprozesse zu erlangen macht (zum Glück) sexy. Immer mehr junge Menschen sehen im Genuss nicht nur schnelle Bedürfnisbefriedigung, sondern Leidenschaft. Der Drang nach Perfektion am Herd nimmt zu, das sehe ich im Blog. Wer tief in die Materie des Kochens eindringen will, stößt im Internet irgendwann an Grenzen, die (zur Zeit noch) nur ein Fachbuch überwinden kann.
Persönlich
Nur wenn es menschelt entsteht Vertrauen. Auf Chefkoch.de vertraue ich schon lange nichts und niemandem mehr. Wenn „susi67“ mir hinter ihrem Avatar eines rosa Kaninchens Ratschläge zum Sous-vide-Garen gibt, dann werde ich skeptisch. Wenn Yotam Ottolenghi mir im Vorwort seines Werks entgegenlächelt, mir seine Philosophie des Kochens näherbringt und mich auf jedem der Rezepte mit einer Anekdote zu dessen Entstehungsgeschichte begleitet, dann wächst in mir ein wohliges Gefühl des Vertrauens. Dann entsteht das Gefühl, dass viel Leben und Herzblut in ein Rezept geflossen sind. Erst dann bin ich auch bereit, eine Kombination zu testen, die mir bis dato seltsam erschien. Wenn Yotam das empfiehlt, ist es einen Versuch wert. Wenn der anonyme Autor hinter „Die 10 besten Pasta-Rezepte“ sagt, ich solle Dosen-Mandarinen in meine Sahnesauce kippen, dann klappe ich das Buch zu. Vertrauen entsteht, wenn ein Autor aus dem Schatten seines Werks hervortritt. Mit Ehrlichkeit, Anekdoten, Humor und Fachwissen. Rezepte allein können keine Persönlichkeit schaffen.
Disruptiv
Manchmal bin ich aber auch durch ganz einfache Mechanismen zu ködern. Als ich die spektakulären Bilder in Modernist Cuisine at Home zum ersten mal gesehen habe, war es um mich geschehen. An Weihnachten lag das Buch unterm Baum und seither verliere ich mich einmal die Woche in den Aggregatzuständen eines gekochten Eis und den Blick in aufgeschnittene Gemüsebeete. Außergewöhnliche und aufwändige Fotografie, ein neuartiger Schreibstil, ungewohnte Materialien oder ein revolutionäres Layout sind der beste Kochbuch-Köder. Haptik und Optik eines Kochbuchs sind durch keinen E-Reader zu ersetzen. Wer es schafft, in der Inszenierung von Rezepten auf sinnvolle Art und Weise aus der Masse an Kochbüchern auszubrechen, hat den ersten Schritt in Richtung Erfolg geschafft. Wer einen so schrecklich alltäglichen Prozess wie das Kochen auf disruptive Art und Weise einfängt und erlebbar macht, wird auch in Zukunft Kochbücher verkaufen. Weil man auf diesem Weg Menschen fasziniert und glücklich macht.