Der Thalhof in Reichenau erlebte nach seiner Neueröffnung vor rund einer Woche nun bereits die zweite große Theaterpremiere. Anna Maria Krassnigg inszenierte „La Pasada – Die Überfahrt“ von Anna Poloni. Die Uraufführung eines spannenden Textes, in welcher der Thalhof selbst eine Hauptrolle spielt, setzt in der Inszenierung neue Maßstäbe.
Anklicken umBeim Betreten des großen Saales im Thalhof riecht es stark nach Weihrauch. Es ist eine wirksame Einstimmung auf Kommendes. Ein überdimensionaler, weiß betuchter Tisch erhöht sich an einer seiner Schmalseiten merklich. David Wurawa betritt den Raum mit einer schlanken Gestalt im Arm, die er auf das erhöhte Tischteil ablegt. Er schlägt das weiße Spitzentuch vom Gesicht, doch zu erkennen ist eine schwarze Maske. Ein Memento mori von dem man nicht weiß, ob es ein Artefakt ist oder ob sich darunter etwas Menschliches verbirgt. Ein von einer Banda gespielte Trauermarsch setzt ein und bald ist es klar: Hier werden Vorkehrungen für eine Totenfeier getroffen.
„La Pasada – Die Überfahrt“ ist das dritte Bühnenstück nach „Camera Clara“ und „Carambolage“ von Anna Poloni. Seine Premiere erlebte es am Thalhof, jener Wortwiege an der Rax, die in diesem Frühsommer neu eröffnet wurde. Anna Maria Krassnigg, die neue Intendantin des renovierten Hauses, hat das Stück inszeniert. Es hat weder etwas sommerlich Leichtes an sich, noch ist es ein Kammerspiel, das man mit zwei, drei Requisiten zur Aufführung bringen kann. Denn „La Pasada“ spielt in unterschiedlichen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten und hat doch einen Fixpunkt, von dem aus erzählt wird: Der Thalhof selbst.
Ein altes Mädchen und ein junger Mann schreiben Familiengeschichte
Erni Mangold verkörpert die Hauptrolle, Flora Stern – ein Mädchen von 86 Jahren, wie sie in einem Oxymoron beschrieben wird – und ist dennoch an diesem Abend nicht körperlich anwesend. Denn das Spiel um die Geschichte einer ganzen Familie besteht aus zwei Ebenen. Zum einen ist es das live erlebbare Schauspiel im Thalhof selbst, zum anderen sind es Filmszenen, die auf einen großen Bildschirm eingespielt werden. In ihnen erzählt Flora nach und nach ihre Geschichte Ariel Stern, „einem Jungen im Aufbruch“, wie es im Programm heißt. Er ist von seinen Eltern geflohen und sucht bei Flora, die den Thalhof bewohnt und die er anfänglich für seine Großmutter hält, Asyl. Auf der Suche nach seinem eigenen Lebensweg hinterfragt er die Wurzeln seiner Vorfahren. Flavio Schily beeindruckt in der Rolle des suchenden, vermeintlichen Enkels enorm. Derzeit besucht er noch die Oberstufe in einem Wiener Gymnasium, aber er agiert vor der Kamera bereits höchst professionell, ohne dass sein Spiel in einer Sekunde aufgesetzt wirkt. Als Ari bringt er Flora dazu, ihm mithilfe eines Memory-Spieles die großen Stationen ihres Lebens zu erzählen.
David Wurawa mimt Cal, einen Afrikaflüchtling, der Flora an einem spanischen Strand kennenlernte. Wider jede Konvention nimmt sie ihn, selbst schon in den 80ern, bei sich auf. Er wird zum Katalysator der Veröffentlichung jener Ereignisse aus der Vergangenheit, die fest verschüttet jede Menge Unheil in das Leben der Familie von Flora brachten. „Die Wahrheit ist ein pathetischer Schwachsinn“ verkündet Dolores an einer Stelle zynisch. Die adäquate Übersetzung für sie lautet, lieber Lügen verinnerlichen, als der Wahrheit ins Gesicht sehen müssen. Sie wähnt sich als betrogene Tochter, deren Vater seine Geliebte, Flora, sein Leben lang nicht vergessen konnte. Doina Weber gibt der verbitterten Frau, die sich als Künstlerin lieber mit „Steinköpfen“ als mit lebenden Menschen umgibt, scharfe Konturen.
Ein Familiengeheimnis, das Seelen zerstört
Anna Poloni arbeitet in ihrem Text nicht nur mit drei Sprachen, Deutsch, Englisch und Spanisch. Sie verwendet darin auch das arrivierte Stilmittel der Montagetechnik. Damit legt sie, wie im visualisierten Memory-Spiel, die Karten des gelebten Lebens von Flora nacheinander auf. Zugleich eröffnet sich dabei so manche Fährte, die sich jedoch bald als falsch herausstellt. Die Autorin zitiert auch Passagen aus Shakespeares „Sturm“, jenem „unspielbaren Stück“, wie es Krassnigg einmal bezeichnete, in dem die Liebe als Naturgewalt über ein junges Mädchen hereinbricht und Verheimlichungen ihres Vaters ein Weltbild in ihr kreieren, für das es keinen Vergleich gibt. Nahe an der Dramaturgie eines Krimis nimmt die Regisseurin das Publikum auf Entdeckungsreise in ein Leben mit, das von Widersprüchen nur so strotzt. Flora verlässt nach der Geburt ihrer Tochter Dolores ihren Geliebten, lässt ihr Neugeborenes jedoch bei ihm. Sowohl der Vater als auch seine Frau – die in der Erinnerung von Dolores dunkel glänzte – klären das Mädchen nicht auf, dass Flora ihre eigentliche Mutter ist. Diese Lüge beeinflusst jegliches weiteres Selbstbild aller nachgeborenen Familienmitglieder und wird erst durch die Fragen des Allerjüngsten, Ariel, aufgelöst.
Die vermeintlich kalte Flora zieht schließlich Anton, den Sohn von Dolores auf, den diese mit 14 Jahren zur Welt brachte. Nach der Geburt entzieht Dolores Vater ihr das Kind, um es zu seiner ehemaligen Geliebten zu bringen. Hier ist es keine Lüge, sondern Unausgesprochenes, Verborgenes, das die noch jugendliche Dolores immer tiefer in Familiengeheimnisse verstrickt. „Heidelbeergroß“, so erinnert sie sich, war ihr Kind, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Aber nachdem sie es weggeben musste, hat sie sich nie mehr darum gekümmert. Als Anton erwachsen ist, verlässt Flora die Stadt und zieht auf den Thalhof, einen Ort zwischen mar y montana. Zwar gibt es im Text selbst keine genaue Definition dafür. In den Videoeinspielungen, vor allem wenn man noch dazu vor Ort ist, wird der Thalhof jedoch sofort erkennbar. Noch einmal entzieht sie sich mit dem Wegzug aus der Stadt ihrer Familie und wählt eine Freiheit, die sie selbst als „das kalte Land“ bezeichnet. Die sprachliche, aber auch inhaltliche Verschränkung mit Schnitzler, der am Thalhof „Das weite Land“ schrieb – fühlt man an diesem literaturdurchtränkten Platz sofort.
Macht und Ohnmacht von Sprache
Martin Schwanda spielt in einer Doppelrolle sowohl Anton, „el doctor“ als auch den Liebhaber von Flora. Vor einer Woche war er noch als Hochstapler in einer Novelle von Robert Neumann zu sehen. Vor allem seine Verwandlung in einen schrulligen, bärtigen Linguisten, der auf ausgestorbene Sprachen spezialisiert ist, verblüfft unglaublich. Er übt denselben Beruf aus wie der Vater von Dolores und bleibt dabei, trotz all der sprachlichen Fülle mit der er sich umgibt, kommunikationsschwach. Mit der Aussage „die Sprache ist ein Dialekt, der Glück gehabt hat“, verweist er auf die Tatsache, dass historisch betrachtet bisher weltweit mehr Sprachen verschwunden sind als derzeit noch gesprochen werden. Aber zugleich auch darauf, dass Sprache ein menschliches Hilfskonstrukt ist, das sich ständig im Wandel befindet und so fragil und bedroht wie der Mensch an sich ist.
„Die Kamera ist mein bester Freund“ hört man einmal sowohl Cal als an anderer Stelle auch Flora sagen. Tatsächlich werden die Filmeinspielungen nicht als reine Kunstprodukte in die Handlung mit einbezogen, sondern vielmehr als dokumentarische Aufnahmen verwendet. Sie wurden von Cal gedreht, um das Leben von Flora und seine Auswirkungen in einer scheinbar objektivierbaren Form festhalten zu können. Was der einen Wahrheit, bleibt für die andere dennoch Lüge. Da kann das Kameraobjektiv noch so nah an die Personen heranrücken. Erni Mangold spielt völlig unprätentiös eine abgeklärte, aber noch immer liebende alte Frau. Ihr Herz hat Platz für Liebe und für Verdrängung gleichzeitig. Cal ist der einzige, der sein Schicksal akzeptiert hat und mithilfe von Flora tatsächlich ein neues Leben beginnen konnte. Die Nähe zu den abertausend Flüchtlingen, die derzeit nach Europa drängen, wird in diesem Stück weder als bedrohlich empfunden, noch als konstruiert. Er, dessen Familie im Mittelmeer ertrunken ist, schafft es trotz aller Bemühungen dennoch nicht, Floras Kinder und Enkel dazu zu bringen, sich auszusöhnen. „Du blinde Frau hast alles“ sagt er zu Dolores am Ende des Stückes. Ihr wäre es nur Recht, wenn niemand ihrer Nachkommen mit ihr Kontakt aufgenommen hätte.
Das Gestern beeinflusst das Morgen
Ein Schreckmoment in der letzten Szene und das Bild von Ariel, der mit seiner Freundin einen Strand entlang marschiert, spannen noch einmal den Bogen zu Flora, von der man zu diesem Zeitpunkt nur weiß, dass sie am Sterben ist. Mit exakt denselben Worten über Nähe und Freiheit wie sie den Beginn ihrer Erzählung einleitete, geht Ariel weg von seiner Familie in seine eigene Zukunft. Aber zumindest mit dem Wissen, dass Lügen und Unausgesprochenes zur Last kommender Generationen werden. Die sehr subtil eingesetzte Musik (Christian Mair), die sich brillant ins Ohr schmeichelt, unterstütz ganz unterschiedliche emotionale Räume. Das Bühnenbild von Lydia Hofmann und die Kostüme von Antoaneta Stereva vermitteln Mittelmeerflair ohne Kitschambiente.
„La Pasada – Die Überfahrt“ ähnelt vom Sprachmuster und vom psychologischen Aufbau der Charaktere von „Camera clara“. In beiden Arbeiten sind es die Untiefen der menschlichen Seele und die Geheimnisse der Figuren, die zu unerwarteten Wendungen führen, aber zum Teil irreparable psychische Schäden hinterlassen. Die höchst kunstvolle szenische Anordnung im neuen Stück mag vielleicht einige aus dem Publikum verwirrt haben. Sie ist aber ein intelligent ausgesuchtes und adäquates Mittel, die tatsächlich verschlungenen Wege von Menschenleben zu veranschaulichen.
Julya Rabinowich zu Gast im spiel.ball
Julya Rabinowich und Anna Maria Krassnigg beim spiel.ball im Thalhof (c) European Cultural News
Als Einstimmung dieses Abends bat Anna Maria Krassnigg die Autorin Julya Rabinowich in den Thalhof. Spiel.ball nennt sich das Format, in welchem jeweils vor einer Theatervorführung zeitgenössische Literatur in den Mittelpunkt gestellt wird. Mit einer kurzen Lesung aus ihren beiden Novellen „Die Erdfresserin“ und „Herznovelle“ gab sie einen Einblick in ihr Werk und ließ dabei das Publikum auch in die spannende Entstehungsgeschichte der Herznovelle eintauchen. Ein Buch, das direkt von Schnitzlers Traumnovelle inspiriert wurde und somit auch die Möglichkeit bot, die Sicht von Rabinowich auf diesen Literaten zu verdeutlichen.
Rabinowich beeindruckt darin mit überaus starken Bildern wie einer Herzuntersuchung, in der sie den eingeführten Schlauch mit einer züngelnden Schlange vergleicht oder einer unglaublich komischen, dennoch prosaischen Schilderung eines WC-Besuches. Sie beschrieb im Gespräch emotional nachvollziehbar jenen lähmenden Gefühlszustand, der einen befällt, wenn man in Kulturen eintaucht, deren Schrift man nicht lesen kann. Sie erlebte dies als 7jähriges Mädchen, als ihre Eltern von Russland nach Österreich emigrierten, zu einem Zeitpunkt, da sie längst lesen konnte. Reisen in den asiatischen Raum sind für die Autorin aufgrund dieser einprägsamen Erfahrung ein No-go.
Der Thalhof entwickelt sich mit seiner dichten künstlerischen Programmatik zu einem Ort, an dem Literatur in mannigfaltiger Variation erlebbar wird. Die Quantität aber auch die Qualität der unterschiedlichen Gespräche und Aufführungen verführen förmlich dazu, mehrmals im Jahr dieses Haus zu besuchen und zugleich den Ort Reichenau inmitten seiner ihn umgebenden grünen Überfülle öfter zu genießen.