Vorbemerkung: Dieser Text stellt eine Kurzversion des Textes Der Ursprung des IvI – ein ontologischer Beitrag zur Selbstreflexion dar, der sich hier abrufen lässt.
Diese Version ist eine Art kleines, verspätetes Geburtsgeschenk an das IvI, dessen Existenz am 3. 12. 2007 mit der Besetzung des Kettenhofwegs 130 begann.
Wir wünschen das Beste hoffen auf weitere irrelevante Jahre!
Krisen sind stets eine Gelegenheit zur Selbstreflexion. Was zeichnet das in die Krise geratene Projekt eigentlich aus, was ist der „Kern”, auf den sich dieses Projekt besinnen sollte? Die in diesem Artikel vertretene These soll eine Art Vorschlag sein, wie sich das IvI selbst definieren, was sein „Kern” sein könnte. Dies ist nicht als bloße normative Setzung, sondern genau als „Kern”-Analyse gemeint – also primär deskriptiv, freilich nicht im Sinne einer empirischen Untersuchung, sondern einer grundsätzlicheren, philosophischen Selbstreflexion.
Es ist generell sehr hilfreich, bei solchen Fragen mit dem scheinbar Banalsten, Einfachsten zu beginnen und sich von dort zum eigentlichen Problem vorzutasten. Oft genug verbirgt sich in dem zunächst Banalstem, Einfachstem bereits das eigentliche Problem. Das scheinbar Banalste, Einfachste ist, dass das IvI ein Ort ist. Freilich ist diese Bestimmung nicht unkontrovers: man könnte das IvI auch als politisches oder kulturelles Projekt jenseits eines bestimmten Ortes verstehen und den Ort nur als sekundäre Folgerung, als Mittel. Doch was wäre das IvI ohne einen Ort? Für welche Ideen stünde es genau? Wir glauben in der Tat, dass man vom Ort ausgehen muss, wenn man den „Kern” des IvI begreifen will. Jede politische Definition des Projekts basiert auf seiner Örtlichkeit, nicht umgekehrt. Es geht also darum, nach dieser Örtlichkeit zu fragen. Beginnen wir daher mit sehr grundlegenden Überlegungen zum Ortsbegriff.
Der Mensch ist ein grundsätzlich im Raum existierendes Wesen. Er ist nicht irgendwo, er ist „da”. Dieser Raum ist freilich kein abstraktes etwas, sondern immer schon konkret geordnet im Rahmen der leiblichen Existenz des Menschen. Diese Ordnung basiert auf Orientierungspunkten – ich liege im Bett, ich stehe auf, um aufs Klo zu gehen, ich verlasse das Haus, um zum Supermarkt zu gehen etc. Das ist der Grundbegriff des Ortes. Orte strukturieren den Raum und geben ihm so erst eine Kontur, gleichzeitig enthüllt sich in dieser Kontur erst die konkrete Materialität des Raumes (etwa als Hindernis, als Abstand, als Erleichterung etc.). Die Definition des Ortes ist somit immer eine konkrete Aneignung der Materialität des Raumes, genauer gesagt: der Erde als basaler materieller Qualität und unabdingbarer Grundlage jeder Räumlichkeit.
Es gibt dabei eine basale Orientierung aufgrund meiner natürlich-leiblichen Existenz. Diese ist für meine Örtlichkeit zwar fundierend, entscheidend ist jedoch ihre soziokulturelle Definition. Ich bewege mich stets in einer örtlichen Matrix die zwar je meine ist, jedoch nie von mir gemacht wurde. Ich stehe etwa morgens auf. Mein Bett, mein Zimmer, mein Haus ist definiert als mein Erholungsplatz, indem ich schlafen, essen, lesen kann, einen gewissen „Freiraum” genieße. Mein gesamter Wohnraum ist im Hinblick auf diesen Erholungsplatzcharakter strukturiert. Ich muss nun aufstehen und zu meinem Arbeitsplatz gehen. Dieser ist nun mein Orientierungspunkt, mein Weg zur Arbeit erscheint als zu überwindender Abstand, als Verkehrsweg, den bestimmte Regeln definieren, nach denen ich mich zu richten habe. Etc. pp.
Man könnte diese Beschreibung endlos fortsetzen. Doch aus dieser groben Skizze sollte bereits klar werden: es existiert eine normative Ordnung, die jedem Ort, sei es als Erholungs-, als Arbeits-, als Spiel-, als Kultur-, als Marktplatz, seinen Platz, seine gesellschaftliche Funktion zuweist und in der wir uns für gewöhnlich bewegen. Diese Ordnung ist dabei nicht bloß ideell, so als handelte es sich um eine Art kollektive Einbildung, sondern manifestiert sich jeweils in der konkreten materiellen Organisation der Orte, die bereits in sich eine bestimmte Benutzung nahelegt. Freilich markiert diese Materialität der Orte auch immer eine gewisse Widerständigkeit: selbst der funktionalistischste Architekt kann einen Ort niemals so zurichten, dass seine Materialität völlig in seiner Funktionalität aufginge. Es gibt immer einen gewissen Überschuss der Benutzbarkeit – der teilweise wiederum selbst Teil seiner Funktion ist, teilweise dieser Funktion hinderlich. Von der subjektiven Seite aus gesehen heißt das: ich kann mir den Ort auch immer anders aneignen, meine Örtlichkeit immer anders definieren, als mir meine normative Ordnung vorgibt. Vom Standpunkt dieser Ordnung aus gesehen ist das ein Missbrauch – von meinem aus gesehen nichts weiter als ein alternativer Gebrauch, der meinen eigenen subjektiven Erfordernissen entspricht. Ich kann auf der Autobahn Skateboard fahren, im städtischen Brunnen schwimmen, im Kaufhaus schlafen etc. pp.
Es gibt so eine Politik des Ortes, die für jede widerständige Politik von zentraler Bedeutung ist: es geht darum, sich den Raum gemäß seinen eigenen Bedürfnissen anzueignen, sich die Nutzung des Raumes nicht von der herrschenden Funktionalisierung der Welt diktieren zu lassen. Diese Funktionialisierung produziert zwar permanent neue Möglichkeiten der Aneignung des Raumes, sie bleibt jedoch ihrem Wesen nach letztendlich doch repressiv und beschränkend: der Materialität der Erde, der Leiblichkeit und der Idealität der Individuen wird jeweils Gewalt angetan – ihre Entfaltungsmöglichkeiten werden gehemmt, ihre innersten Bedürfnisse negiert. Wälder werden sinnlos gerodet, Orte nach einer für den Leib völlig dysfunktionalen Weise zugerichtet, der Möglichkeitssinn der Menschen systematisch zugekleistert, indem durch die bloße Materialität der Orte eine Pseudoevidenz ihrer herrschenden Nutzung suggeriert wird (Moral und Gewöhnung erledigen das Übrige).
Jede Wiederaneignung des Raumes ist somit ein eminent subversiver Akt. Es handelt sich nur vom Standpunkt der Ordnung aus betrachtet um eine „Be-setzung” (was eine Hemmung suggeriert), eigentlich handelt es sich um eine Frei-setzung, das Gegenteil einer Hemmung. Im Idealfall bedeutet diese Freisetzung die Schaffung dessen, was man als einen „utopischen Ort” bezeichnen kann. Ein Ort, dem keine Funktionalität im System zugeordnet werden kann, der in ihm wie eine unheilbare Wunde klafft. Doch vom Standpunkt der Emanzipation aus betrachtet markiert eine solche radikale Verwundung den Beginn einer möglichen Heilung: es kann ein neues Verhältnis zu Erde und Leib erprobt, aber vor allem der Möglichkeitssinn enthemmt und überhaupt erst entwickelt werden. Was ist mit einem Ort möglich? Wie kann man ihn kollektiv verwalten in einem Vakuum jenseits der herrschenden normativen Ordnung? Was soll an ihm geschehen können und was nicht? All dies sind Fragen, die das IvI-Kollektiv über all die Jahre konsequent beschäftigt hat. Der Verdienst des IvI ist es, sich der Versuchung einer Refunktionalisierung konsequent widersetzt und seine ursprüngliche Offenheit weitestgehend bewahrt zu haben. Dies war nicht zuletzt wegen der Materialität des Ortes selbst möglich: der „Funktionalismus” des Architekten Ferdinand Kramers bedeutet gerade nicht eine Einschränkung auf bestimmte Funktionen, sondern eine möglichst offene Gestaltung, die eine vielfältige Funktionalisierung ermöglicht. Das IvI konnte so als Bibliothek, Treffpunkt, Veranstaltungsort, Wohnraum u.v.m. dienen. Seine „eigentliche” Bestimmung blieb immer offen, es konnte nie klar unter einer dieser Kategorien subsumiert wurden. Es wurden Dinge gemacht, die anderswo so nicht möglich gewesen wären und das nicht, und das ist entscheidend, individuell und vereinzelt, sondern kollektiv.
Die spezifische polemische Pointe genau dieser Freisetzung ist nun, dass es sich ursprünglich um einen öffentlichen Ort handelte: ein Universitätsgebäude. Es ging also nicht darum, ein privates Gebäude der Öffentlichkeit zugänglich zu machen oder sogar, wie bei manchen alten Hausbesetzungen, einer bestimmten neuen Nutzung im Rahmen gesellschaftlicher definierter Funktionsnormen („Erholungsplatz”) zuzuweisen. Viel eher ist die implizite Botschaft dieser Freisetzung viel radikaler: bei der so genannten „Öffentlichkeit” handelt es sich um eine Pseudo-Öffentlichkeit. Es geht darum, den öffentlichen Raum zu öffnen, ihn somit erst seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen: nicht funktionalistisch definierter Treffpunkt von Individuen unterschiedlichster Herkunft zu sein, um in gemeinsamen Dialog und gemeinsamer Praxis den Vorschein einer künftigen Menschheit zu konstituieren.
Das IvI ist für die einen ein Schandfleck in der durchfunktionalisierten Frankfurter Innenstadt, eine Störung des Ausbildungs-, Wohn- und Bürobetriebs im Umfeld, für die anderen eine Oase, „utopisch” einerseits im Sinne eines konkreten Vorscheins eines möglichen Besseren, andererseits im Sinne seiner konkreten Nicht-Verortbarkeit im Rahmen des herrschenden Ordnungsrahmens. Selbst als bloße Fata Morgana käme ihm, so verstanden, doch noch eine wichtige Bedeutung zu als Symbol möglichen Widerstands: es gibt ein mögliches Leben jenseits des totalen Funktionierens, es muss nur erobert und freigesetzt werden. Deshalb lohnt sich unserer Ansicht nach der Kampf für den Erhalt des IvI, gerade in so widrigen Zeiten wie diesen.