Fünf Minuten vor Premieren wolle Grian Duesberg viel lieber Maurer als Schauspieler sein – Stein auf Stein und am Ende stünde ein ordentliches Haus. So weit weg lag das, was er und seine Mitstreiter/innen am 11.04.2013 im Greifswalder Café Koeppen abgeliefert haben, nicht von diesem Wunsch. Viel mehr noch: Dieser Abend war Theater, wie es sein sollte – mitreißend, authentisch und unterhaltsam.
Zwischen 1998 und 1999 geschrieben, thematisiert 4.48 Psychose die Erkrankung Depression, über die in gesellschaftlichen Zusammenhängen zunehmend gesprochen und geschrieben wird, deren Darstellung allerdings noch immer und scheinbar zwangsläufig mit verschiedenen Tabus verbunden scheint – das, was gesagt werden darf, und vor allem, wie es gesagt werden darf, ist streng reglementiert. Zugleich ist Sarah Kanes letztes Stück – kurz nach der Fertigstellung erhängte sie sich – von einer Prägnanz, die einen Großteil der Auseinandersetzungen mit depressiven Schüben, deren Therapie sowie Suizid und Suizidversuchen in den Schatten stellt. Zum einen liegt das an der Authentizität, die dem Stück grundlegend eingeschrieben scheint: 4.48 Uhr lässt sich als „Moment der größten Klarheit“ – weil von Medikamenten relativ unbeeinflusst – bei gleichzeitig „größtem psychotischen Anteil“ beschreiben. Dieser Zustand ist Ausgangspunkt der Auseinandersetzung. Zum anderen ist dies durch die Konsequenz der formalen Umsetzung bedingt: Eine Aneinanderreihung von Monologen, die mal mehr oder weniger dialogische Züge tragen, zahlreichen Zahlenketten, abstrakten bis konkreten Bildern sowie verschiedenen Notizen – das alles übrigens ohne feste Regieanweisungen und Rollenverteilungen – usw., welche die Widersprüchlichkeiten, das Wechselspiel zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, den Auf- und Zusammenbruch, die mit dieser Krankheit verbunden scheinen, auf (für mich bisher) unbekannte Weise zum Ausdruck bringen. Kurz gesagt: Eine fantastische Vorlage, die man sich aneignen, mit der man kämpfen und die man beherrschen muss. Gelingt dies, so ist die Inszenierung von 4.48 Psychose ein unbeschreiblicher Gewinn.
An solchen und ähnlichen Vorlagen mangelt es nicht und dennoch sind schon viele Regisseure, Dramatiker und Ensembles daran gescheitert – sei es, weil sie unnötig aktualisieren oder verfremden, mit abwegigen Problemfeldern aufladen oder ihr Publikum nicht überfordern wollen. Dies alles hat Uta Koschel – die mit ihrer Regie bei Kleiner Mann, was nun? und Das Fest am Theater Vorpommern bereits gezeigt hat, dass sehr genau weiß, was ein Text zulässt und welchen Spielraum sie hat – nicht gemacht. Sie verzichtete auf eine Strichfassung; schuf einen Rahmen, der die Entwicklung dessen, was im Stück angelegt scheint, zulässt; nutzte ihren Interpretationsspielraum (vor allem bezüglich der Regieanweisungen) sowie den (nur) auf den ersten Blick ungewöhnlichen Aufführungszusammenhang konsequent und brachte ihre Schauspieler/innen zu Höchstleistungen. Und hier liegt ein weiterer Grund für das Gelingen dieser Inszenierung: Drei Akteure (Elke Zeh, Grian Duesberg und Hannes Rittig), welche die Distanz zu ihren („Nicht“-)Rollen problemlos überwinden, eine Sprache finden und die Bühne ausfüllen konnten. Ihr Spiel war souverän – aber nicht von dieser Abgeklärtheit, die an verschiedenen Bühnen begegnet –, mitreißend und von jener Authentizität, welche die Thematik greif-, beschreib- und nachvollziehbar werden lässt. Und das Publikum (jedenfalls mich) in jedem Moment mitgenommen hat.
Dieser Eindruck wurde durch den ungewöhnlichen Aufführungsrahmen noch – vielleicht war das auch grundlegende Bedingung für das Gelingen? – unterstützt: Ein „Projekt“, das durch Spenden und private Unterstützer erst ermöglicht wurde und damit eine für (solch ein) Theater wohltuende wie vermeintlich ungewohnte Freiheit schuf und ein Ort – das Greifswalder Café Koeppen –, welcher die Aufhebung der Grenzen zwischen Bühne und Publikum, Darstellern und den von ihnen verkörperten Charakteren sowie Fakt und Fiktion möglich machte. Der damit einhergehende Verzicht auf ein Bühnenbild – was nicht bedeutet, dass völlig „nackt“ gespielt wurde, musikalische Umrahmung, der Einbezug diverser Tische und Stühle sowie des Innen- und Außenraums waren gegeben und schufen eine nur schwer zu beschreibende Atmosphäre – und damit gewisser Interpretationsangebote tat dem keinen Abbruch. Vielmehr war das konsequent und Theater, wie es sein sollte. Wünschenswert wäre – vor allem mit Blick auf die hiesige Theaterlandschaft –, dass dieser Mut zum Risiko, der Kunst im Allgemeinen und Theater im Besonderen ausmacht, viel öfter anzutreffen wäre.
Wem dies zu wenig an Information war, der/die hat Gelegenheit am 8. und 9. Mai – die Aufführungen am 20./21. April sind bereits ausverkauft –, Sarah Kanes 4.48 Psychose im Café Koeppen live zu erleben und mit seinem Besuch damit beizutragen, dass dieses außergewöhnliche Theaterprojekt nochmals in die Verlängerung geht.
In der Maiausgabe unseres pdf-Magazins erscheint ein sehr umfassender Beitrag zu Stück, Autorin und Inszenierung.