Das ist das Mindeste

Von Olekrueger

Es war laut. Sehr laut heute früh in der S-Bahn. Ausgerechnet heute. Nach dem langen Abend im Café Garbaty gestern. Mit dem guten tschechischen Bier. Da simmer dabei, dat is prima. Haben sie gesungen. Nein, gebrüllt haben sie es. Heute früh in der S-Bahn. Mein Hirn war aber noch nicht online. Ich konnte die Zeilen nicht zuordnen. Wohl auch, weil die Brüller hinter mir saßen. Was wollen die bloß? Auch beim Refrain sollte sich keine logische Verbindung zwischen Lied, Text und Ereignisort beziehungsweise Datum/Tag einstellen. Viva Colonia. Brüllten nun noch ein paar mehr mit im Chor. Viva Colonia. Irgendwann, irgendwo hatte ich das schon einmal gehört. Da mein Hirn jedoch immer noch in der Ladestufe verharrte, nahm ich mein Smartphone zu Hilfe. Dazu ist es ja schließlich da. Um all die trunkenen Hirne am frühen Morgen zu ersetzen.  Oder zumindest, ihnen Unterstützung zu bieten.

Viva Colonia. Ein Lied von den Höhnern aus Köln. Neukölln? Nee, Köln. Colonia eben. Ach, richtig. So ein Karnevalsong, der dort jedes Jahr und immer wieder geträllert wird. Und, so steht es im Internet geschrieben, sagt mein Smartphone, sogar auf dem Münchener Oktoberfest sei das Lied der Hit. Nun gut. Aber warum brüllen diese Deppen oder Jecken oder wer auch immer sie sind, das Lied morgens in der S-Bahn? Zwischen Alex und Zoo? Während mein Hirn in der Vorstufe zum logischen Denken nach Zusammenhängen suchte, gab es Befehl an die Beine. Ich setzte mich um. Weiter weg von den Brüllern und dafür aber mit dem Gesicht zum Volke. Und nun offenbarte sich mir, wer sich da dem Brüllen eines in Bayern erfolgreichen kölschen  Liedes in Berlin widmete. Dre junge Frauen und ein Typ. Schätzungsweise Anfang 20. Oder jünger. Oder älter. Wie auch immer. Mein Hirn signalisierte: Weg hier. Raus. Aussteigen. Dann wieder: Sitzenbleiben. Wir sind noch nicht am Ziel. Was also machen? Das Gebrüll und den Anblick ertragen? Oder Aussteigen und zu spät zur Arbeit kommen?

Ich blieb sitzen. Ertrug den Anblick. Den Anblick der Brüllgruppe. Die eine Brülldame hatte einen rasierten Schädel. Zur Hälfte. Die andere Hälfte voller bunter Haare. Ungewaschener Haare. Die zweite mit John-Lennon-Brille. Und Igelhaarschnitt. Ein weiteres Brüllmädchen saß im Abteil gegenüber. Allein. Weil neben ihr niemand mehr Platz gefunden hätte. 150 Kilo. Schätzungsweise. In kurzen Hosen. Zu engen und zu kurzen kurzen Hosen. Mein Hirn signalisierte: Weg. Bloß weg hier. Raus. Doch noch fünf Stationen bis zum  Zoo. Der Dicken gegenüber der Typ. Der Brüllaffe. Das komplette Gegenteil. 50 Kilo. Höchstens. Ein Kreuz wie  Zaunlatte. Aber Schnauzbart. Und Rucksack. Und große Fresse. Viva Colonia. Wir leiben das Leben, die Liebe und die Lust. Brüllt er. Wir glauben an den Lieben Gott und ham auch immer Durst. Geht es weiter. Ja. Genau so sieht er aus. Liebe und Lust. Eher wie Krise und Frust.

Aber warum nur sangen die das Lied? Mein Hirn war inzwischen zu 50 Prozent gefechtsbereit und versuchte nun Lied, Ort, Datum und vor allem Brüllgruppe unter ein Dach zu bringen. Der Karneval war es nicht. Oktoberfest? Auch nicht. Der 1. Mai? Der 1. Mai. Der musste es sein. Aber warum Viva Colonia? Ich hab es nicht herausgefunden. Nur zwei Dinge wurden auf der Fahrt bis Zoo noch klar. Nämlich was die Gruppe außer dem Brüllen noch verband. Erstens: Alle waren noch nie einer geregelten Arbeit nachgegangen. Und zweitens: Sie waren unterwegs zur 1. Mai-Demo des DGB.  Motto: Das ist das Mindeste. Zu Gast: Die Band Ruhestörung. Viva Colonia.