Um eins vorweg zu nehmen: Ich bin kein Apple Basher und halte auch Apple’s Konzept vom iPhone für ein grandioses Stück Technologie und noch viel mehr für ein bahnbrechendes Geschäftsmodell. Die Benutzerfreundlichkeit und konsequent umgesetzte „Smoothness“ des iPhones ist weiterhin einzigartig und wirklich beeindruckend. Ich besitze kein iPhone. Es entspricht nicht meinem Bedarf und Nutzungsverhalten, aber in die Richtung soll dieser Artikel sowieso nicht gehen.
Ich bin der Meinung, dass sich Apple, unter normalen produkt- und marketingtechnischen Gesichtspunkten, mit der Veröffentlichung des neuen iPhones soeben das Genick gebrochen hätte. Ja, der Leser liest richtig: hätte. Denn eben genau diese Gesichtspunkte scheinen aus ganz bestimmten Gründen bei Apple und insbesondere beim iPhone nicht zu greifen. Doch dafür muss ich etwas ausholen:
Wir schreiben das Jahr 1978. Universität Tokyo. Dr. Noriaki Kano kommt auf die grandiose Idee Kundenanforderungen, also die Merkmale die der Kunde von dem anzuschaffenden Produkt fordert und/oder erwartet, in drei wesentliche Gruppen zu unterteilen:
Quelle: Wikipedia – Kano-Modell
Basismerkmale
Basismerkmale sind all die Erwartungen, die der Kunde in der Regel nicht explizit äußert, sondern als gegeben voraussetzt. Diese Eigenschaften eines Produkts sind so offensichtlich, dass sie nicht kommuniziert werden müssen. Bei einem PKW wären das zum Beispiel das Lenkrad oder, wer hätte es gedacht, vier Reifen. Wie dem Diagramm zu entnehmen ist, erzeugt die Erfüllung der Basismerkmale, so ausgeprägt sie auch seien, keine Kundenzufriedenheit. Der Haken? Werden Basismerkmale nicht erfüllt, erzeugt dies extreme Kundenunzufriedenheit.
Leistungsmerkmale
Leistungsmerkmale werden vom Kunden explizit kommuniziert und erlauben einen messbaren Leistungsvergleich zwischen Produktalternativen. Erfüllung erzeugt Kundenzufriedenheit, Nicht-Erfüllung macht den Kunden sauer. Wenn wir beim PKW bleiben wollen: Pferdestärken.
Begeisterungsmerkmale
Die Königsklasse der Kundenanforderungen und echte Quelle von Wettbewerbsvorteilen. Der Kunde rechnet nicht mit diesen Merkmalen und ist um so mehr zufrieden, wenn das Produkt sie aufweist.
Genug der Lehrstunde, zurück zum Thema.
Apple hat es wie kaum ein Unternehmen zuvor geschafft, ein Mobiltelefon mit Begeisterungsmerkmalen vollzustopfen. Touchscreen (ok, Palm war erster), Multitouch, Einfachheit usw. Ein voller Erfolg. Doch dann kam das neue iPhone 4.
Im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern stellt es in meinen Augen keinen großen Fortschritt dar. Ok die Auflösung ist einmalig, aber Videotelefonie, iMovie und neuartige Proximity Sensoren sollten doch bitte kein Kaufargument sein.
Videotelefonie ist ein Versuch der Kommunikationstechnologie, der mittlerweile gut 20 Jahre alt ist und in meinen Augen niemals in ausreichender Konsequenz genutzt werden wird. Hinzu kommt, dass dieser nur über WLAN und von iPhone 4 zu iPhone 4 möglich ist. Das können andere Platformen schon seit einiger Zeit deutlich besser.
iMovie ist eine App und damit nicht wirklich konkreter Teil des Produkts iPhone 4.
Und die Proximity Sensoren? Fehlerhaft.
Doch wirklich ins eigene Fleisch geschnitten hat sich Apple mit einer ganz anderen Tatsache: Dem, als sowas von neuartig und revolutionär angepriesenem, Design der Antenne. Und hier kommt wieder der gute Kano ins Spiel: Der Empfang des Mobilfunknetzes ist eine absolute Basiseigenschaft eines jeden Mobiltelefons. Mehr Basiseigenschaft geht garnicht. „Empfang von Mobilfunknetz“ ist quasi gleich Mobiltelefon. Ok, ich schreibe mich etwas in Rage, aber ich denke man versteht was ich meine.
Hält man das neue iPhone auf bestimmte, völlig natürliche, Weise, ist es mit genau diesem Empfang dahin. Die gesammte Kommunikation des Geräts nach außen bricht zusammen. Ein Produktionsfehler? Könnte man denken. Doch Steve Jobs himself antwortet in einer Mail persönlich mit den Worten „Just avoid holding it in that way.“
Quelle: Engadget
Bitte was? Schreibt Apple den Usern jetzt auch noch vor, wie man ein Produkt zu halten hat? Apple geht sogar einen Schritt weiter, wie das folgende betriebsinterne Dokument belegt:
1. Keep all of the positioning statements in the BN handy – your tone when delivering this information is important.
a. The iPhone 4’s wireless performance is the best we have ever shipped. Our testing shows that iPhone 4’s overall antenna performance is better than iPhone 3GS.
b. Gripping almost any mobile phone in certain places will reduce its reception. This is true of the iPhone 4, the iPhone 3GS, and many other phones we have tested. It is a fact of life in the wireless world.
c. If you are experiencing this on your iPhone 3GS, avoid covering the bottom-right side with your hand.
d. If you are experiencing this on your iPhone 4, avoid covering the black strip in the lower-left corner of the metal band.
e. The use of a case or Bumper that is made out of rubber or plastic may improve wireless performance by keeping your hand from directly covering these areas.
2. Do not perform warranty service. Use the positioning above for any customer questions or concerns.
3. Don’t forget YOU STILL NEED to probe and troubleshoot. If a customer calls about their reception while the phone is sitting on a table (not being held) it is not the metal band.
4. ONLY escalate if the issue exists when the phone is not held AND you cannot resolve it.
5. We ARE NOT appeasing customers with free bumpers – DON’T promise a free bumper to customers.
Quelle: BGR
Nicht nur, dass Apple seine Service-Mitarbeiter dazu anhält, keine kostenlosen Schutzhüllen zu vergeben (die das Problem übrigens zu lösen scheinen), sondern auch die Tatsache, dass das ganze Problem jetzt schön geredet wird, stimmt mich dann doch etwas zornig. Empfangsprobleme bei Benutzung des Geräts seien völlig normal. Das Problem habe jedes Mobilfunkgerät. Schwachsinn!
Um so mehr wundert mich das erst heute ans Tageslicht gekommene Dokument, in dem Apple ganz offensichtlich nach acht Ingenieuren sucht, die fit in Sachen Antennentechnik sind:
Quelle: Techcrunch
Apple’s Kundenstamm müsste aufschreien. Tut er aber nicht. Warum? Gute Frage! Vermutlich sind da draußen doch mehr Fanboys unterwegs als bisher angenommen. So viele, dass geltene Gesetze der Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt werden. So viele, dass weiterhin blind alles gekauft wird, wo ein Apfel drauf ist. Für mich unverständlich, weil alles andere als kundenfreundlich.
(via: Wikipedia, Engadget, BGR, Techcrunch)