Das Internet ist mein Pony, der Kosmos mein richtiges Pferd!

Ich führe eine doppelte Existenz im Internet, sie heißt mal bookishasearlgrey, mal sommer hier, mal nachtmar, schreibt für mich Gedichte, Prosa, Essays und manchmal sogar Tagebuch und entwickelt sich zu einer selbstlaufenden, zweiten Realität, der meine FreundInnen manchmal mehr glauben schenken als der Regine Glaß aus Fleisch und Blut. Ich schreibe gefühlvollere E-Mails, als mein Herz mir zu fühlen erlaubt und halte manche Pointen im Leben zurück, um sie auf Facebookpinnwände der Betreffenden zu verewigen. Ich euphoriere im Klappentext zu meiner Internetseite über die Autonomie digitaler Literatur und bin Mitglied in einem literarischen Teamblog. Meinen Backkatalog an Texten aus den letzten drei Jahren kann man samt und sonders bei keinVerlag durchblättern, auf myspace liegen auch noch ein paar Jugendsünden, und meine zeitgenössische deutsche Lieblingskünstlerin heißt Lena Knaudt, deren Literatur, Bilder und Filme ich zu Hause nur über ihre Website, ihren youtubechannel und keinVerlag rezepiere. Ich spreche eigene und fremde Texte als Hörstücke ein und stelle sie auf meinen oder den Seiten von Freunden online.
Und trotz all dem würde ich mich niemals als einen digitale bohéme bezeichnen.
Die ehrliche Wahrheit ist: Ich veröffentliche doch nur im Internet, weil ich mich noch nicht reif genug für einen Verlag fühle und trotzdem an Geltungssucht leide, und möchte, dass jemand meinen Rotz liest. In E-Mails kann ich mich von der besten Seite zeigen, ohne an meine Körperhaltung zu denken. Manche Witze und Bemerkungen erscheinen mir zu geistreich, als dass ich sie einfach dem Pöbel anvertraue, das heißt den FreundInnen und Bekannten, ich möchte, dass sie noch für mehr Menschen sichtbar sind, damit sie überhaupt wirklich gewertschätzt werden. Würde es einen Markt für Lyrikanthologien geben, der nicht auf Kosten der AutorInnen geht, würde ich all meine Freizeit in das Herumschicken von Manuskripten investieren. Ich bin zu faul, meine Texte ordentlich zu archivieren und überhaupt Sicherungen meiner Festplatte vorzunehmen. Meist schreibe ich die Texte spontan einfach ins Artikelformular des jeweiligen Blogs. Ich kriegs nicht hin, mein myspaceprofil zu löschen (obwohl da auch steht: more to love!, hihi). Lena Knaudt versüßt mir kostenlos jede Mußestunde, aber ich wünsche ihr nichts sehnlicher, als einen Verlag, einen Job in der Filmbranche oder eine Ausstellung. Ich fände es furchtbar, wenn die Welt nicht von ihr erfährt. Seit ich aus der Literaturbühne geschmissen wurde und die Berliner Lesebühnen mich nicht überzeugen, vermisse ich jede Gelegenheit, meine eigene Stimme zu hören.
Empfehlungen, Favorisierungen, Daumen nach oben und liebe Kommentare retten mir manchen Tag, aber wisst ihr, was mich wirklich glücklich gemacht hat? Mein erstes Gedicht gedruckt zu sehen und für meine erste Rezension im Missy Mag bezahlt worden zu sein! Meine erste, eigene Lesung! Mich zum Literatursalon mit meinen FreundInnen zu treffen und uns Sachen vorzulesen und zu kritisieren! Wie altmodisch! Und wie berechnend!
Nein, ich bin kein Digitale bohéme aus Leidenschaft, sorry, das war gelogen! Ich bin jemand, die wirklich gerne Schriftstellerin ist, ob haupt- oder nebenberuflich, und die nicht vom Land in die Stadt gezogen ist, um sich hier nur virtuell zu vernetzen! Nur ist das kulturelle Leben in Berlin nun manchmal angesichts der Ausmaße des gigantischen Potentials unterirdisch und die zugehörigen Menschen nerven und klüngeln. Da zieht man sich ins Netz zurück und macht vielleicht alles nur noch schlimmer. Womit ich nicht sagen möchte, dass ich dies nicht ändern möchte. Nur: Ich sehe es eben auch als Möglichkeit, ich könnte zu schlecht, zu faul, zu verzettelt, zu feige sein, für Print und Bühne sein, anstatt die digitale Welt als dankbare Spielfläche zu vergöttern. Und es einen Zustand zu finden, dass viele begabte Menschen für lau arbeiten, weil sie nicht genügend Selbstvertrauen zur ständigen Selbstvermarktung haben. Ich würde mich jedem Lektorat anvertrauen, das mir hilft, meinen Roman zu veröffentlichen. Und kennte ich die richtigen Leute und Orte, ich gründete sofort ein Kaberett, eine Lesebühne, und erneut meine eigene Zeitung. Woher kommt diese plötzliche Real-Life-Versessenheit? Vielleicht taugt mal wieder die all-round-Antwort: I'm getting too old for this shit.

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