Quelle: Helmut Mühlbacher
Ihr Lieben,
ich möchte Euch heute eine Geschichte von Eveline Hasler erzählen:
„Der Ha-Ha“
„Es war einmal ein Junge, der war wie alle anderen Jungen, bis zu dem Tag, als er zur Schule kam. Da begann er zu stottern. Es fiel gleich am ersten Schultag auf, als er seinen Namen sagen sollte.
„Wie heißt Du?“ fragte ihn die Lehrerin.Der Junge saß in der hintersten Bank und blickte über die Köpfe der Schüler hinweg zur Lehrerin, die vorne am Pult stand . Er war ziemlich groß, aber schmächtig und scheu.
Ist meine Stimme wohl stark genug, frage er sich, dass sie über die vielen Bankreihen hinweg nach vorne dringt?
Seine Handflächen schwitzten. Er begann. So laut er konnte: „Ha-“
Er stockte, setzte dann nochmals an: „Ha-Ha“, weiter kam er nicht.
Die Köpfe der Jungen und Mädchen flogen herum. Der Junge sah in dreißig Gesichter, die gerne lachen wollten.“
„Ha-Ha-Ha“, versuchte er es nochmals.
„Ha-Ha-Ha“ lachten die Kinder. Es klang wie ein Echo.
Von diesem Tag an nannten sie ihn den Ha-Ha.
Richtig hieß der Junge Harald Haltmeier. Es war ein langer Name. Wenn der Junge ihn aussprechen sollte, stolperte er über ihn wie über unsichtbare Stelzwurzeln.
Die Kinder lachten dann jedes Mal.
Wenn Harald aufgerufen wurde, blickten sie erwartungsvoll nach hinten.
Sie warteten gespannt, bis er einen Fehler machte.
Die Lehrerin zeigte auf ein Bild, auf dem ein schwarzer Junge unter einer Palme stand. „Wo wohnt dieses Kind“, fragte sie. „Bitte, Harald?“ „In A-Af-Af-rika“, stotterte Harald.
„Aff! Aff!, brüllten die Schüler. Sie lachten jetzt schon viel lauter als am ersten Tag, wo selbst die Frechsten noch ein bisschen zahm gewesen waren.
Sie dachten sich nicht Böses, sie dachten sich nichts Gutes dabei. Sie dachten sich überhaupt nichts. Die schlimmsten Dinge entstehen oft gerade dadurch, dass man sich überhaupt nichts denkt.
Je lauter sie lachten, desto mehr fürchtete sich Harald.
Je mehr er sich fürchtete, um so ärger stotterte er.
Und je ärger er stotterte, um so lauter lachten die Schüler.
Harald getraute sich jetzt kaum mehr, in der Schule den Mund aufzutun.
In der Pause stand er allein.
„Spielt niemand mit Harald?, fragte die Lehrerin.
Die Kinder zuckten die Achseln. „Er stottert ja so schrecklich, der „Ha-Ha“, sagten sie. „Was wollen wir denn mit dem?“
Quelle: Raymonde Graber
Wussten sie denn,dass er auf wunderbare Weise auswendig einen königlichen Löwen zeichnen konnte? Dass er über fünf Meter weit springen konnte. Dass er in der Pause gerne seine Süßigkeiten mit Anderen geteilt hätte?
Nichts von alledem wussten sie. Sie wussten nur, dass er stotterte.
Ihr Lieben,
als ich Kind und Jugendlicher war, war ich in meiner Schule immer ein Außenseiter.
Und warum? Weil ich ein Spätentwickler war. Weil ich z.B. mit 15 Jahren noch aussah wie ein Elfjähriger, weil ich viel kleiner war als meine Klassenkameraden und auch viel weniger wog.
Was ich dachte, fühlte, hoffte, liebte, ersehnte, worauf ich mich freute, was ich für Talente, Begabungen, Träume und Sehnsüchte hatte, das interessierte niemand, auch und besonders die Lehrer nicht.
Und wenn dann ein solcher Außenseiter etwas nicht kann, dann wird er gerne ausgelacht. „Schadenfreude ist die reinste Freude!“ – solche dummen Sätze werden dann dazu verwendet, um das eigene Verhalten gegenüber einem solchen Außenseiter zu entschuldigen.
Zwei Sätze gibt es in unserer heutigen Geschichte, die ganz besonders wichtig sind. Hier der erste:
„Sie warteten gespannt, bis er einen Fehler machte!“
Unsere Aufgabe als Eltern, als Großeltern, als Onkel und Tante, als Freund und Bekannter ist es, die Menschen, mit denen wir zu tun haben, unsere Lieben, unsere Freunde, unsere Bekannten zu ermutigen, damit sie tapfer ihren eigenen Weg gehen können.
Wenn wir z.B. bei unseren Kindern oder Enkelkindern nur darauf warten, dass diese einen Fehler machen, um diesen dann kritisieren zu können, dann dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn sie Fehler machen. Eine der schlimmsten Eigenschaften, die viele Menschen haben, ist die Kritiksucht.
Dabei ist es viel befriedigender, andere Menschen, die eigenen Kinder und Enkelkinder zu ermutigen, zu ihnen zu stehen und liebevoll mit ihnen umzugehen.
Kritisieren – das kann jeder, das tut auch fast jeder.
Aber warum ist das so?
Darauf gibt der zweite wichtige Satz aus unserer Geschichte eine eindrucksvolle Antwort:
„Sie dachten sich nicht Böses, sie dachten sich nichts Gutes dabei. Sie dachten sich überhaupt nichts. Die schlimmsten Dinge entstehen oft gerade dadurch, dass man sich überhaupt nichts denkt.“
Das ist erschütternd! Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass die Kritiksucht nichts ist als eine schlechte Angewohnheit.
Und nicht nur das!
Wenn wir einen anderen Menschen kritisieren, wenn wir unsere Kinder und Enkelkinder kritisieren, dann konzentrieren wir uns gleichzeitig auf ihre Schwächen und unsere Kritik versperrt uns dann die Sicht auf die wunderbaren Talente, Möglichkeiten, Begabungen, Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte unserer Kinder und Enkelkinder.
Wenn Du einen Menschen wirklich fördern willst, dann höre auf ihn zu kritisieren, dann ermutige ihn, dann liebe ihn, dann schenke ihm Zuwendung, dann schenke ihm Hoffnung und wecke Zuversicht in ihm, dann entzünde in ihm ein helles Licht und bring das Feuer der Freude und der Lebenslust in ihm zum Brennen!!!
Dieser Rat solltest Du bei allen Menschen beherzigen, denen Du begegnest und auch bei Dir selbst!Ich wünsche Euch allen ein geruhsames, ein kritikfreies, ein ermutigendes und ein heiteres Wochenende mit innerer Ruhe, einem schönen Kerzenschein, einem leckeren Stück Kuchen und einer duftenden Tasse Kaffee
Euer fröhlicher Werner
Quelle: Karin Heringshausen