Unbeständigkeit, Ich-Losigkeit und Verlöschen bzw. Gelassenheit sind die drei Grundmerkmale des Daseins. Damit die individuellen Handlungen im Dasein nicht als leidvoll erlebt werden, sind die Qualitäten des Mitgefühls und der Weisheit notwendig. Weisheit kommt aus der Einsicht von Leerheit. Die Leerheit meint ein Leersein von einer Eigenständigkeit, einem Sein aus sich selbst heraus. Mitgefühl resultiert aus dem tiefen Verständnis um die wechselseitige Verbundenheit aller Phänomene.
Es war einmal ein kleiner Junge. Sein greiser Großvater berichtete ihm, dass der letzte der Gerechten gestorben ist und keinen Nachfolger hat. Der Junge solle nun diesen Platz einnehmen. Bald, so sagte der Großvater, wird ein Leuchten von ihm ausgehen, die Aura seiner zukünftigen Bedeutung. Der Junge war von Ehrfurcht ergriffen. Er fragte sich aber, was er als Gerechter wohl tun muss. Der alte Mann versicherte ihm, er brauche nur er selbst zu sein, er brauche überhaupt nichts tun, um seine Bestimmung zu erfüllen. Vorderhand genüge es, weiterhin einfach ein braver kleiner Junge zu sein.
Aber das Kind machte sich Sorgen über seine Rolle und entwickelte die fixe Idee, dass Gott seinem Großvater den Tod ersparen wird, wenn er nur lernt, ein Gerechter zu sein.
Er stellte sich großartige Selbstfolterungen und Opfer vor, die vielleicht von ihm verlangt werden könnten. Muß er sich von einem wilden Pferd, an dessen Schweif er sich klammert, über den harten Erdboden schleifen lassen, oder wäre es vielleicht noch verdienstvoller, auf dem Scheiterhaufen von läuternden Flammen verzehrt zu werden?
Er war entsetzt, aber bereit, alles zu tun, was von ihm verlangt werden würde. Also beschloss er, einmal klein anzufangen, den Atem anzuhalten, solange er konnte. Weil das aber anscheinend nicht genügte, fügte er seiner Hand eine schmerzhafte befriedigende, stigmatisierende Brandwunde zu.
Sein Großvater war tief beunruhigt, wenngleich auch gerührt, als er hörte, dass der Junge sich darin übte, an seiner Stelle zu sterben. Um seinen Enkel über den ungeheuren Irrtum aufzuklären, erzählte er ihm, dass selbst ein Heiliger nichts in der Welt ändern kann.
Er schilderte ihm: ”Ein Gerechter kann niemanden retten. Er braucht das Leid nicht zu suchen; es ist in der Welt, für ihn wie jeden anderen. Er muss nur offen sein für das Leid der anderen und wissen, dass er nichts ändern kann. Ohne seine Brüder und Schwestern retten zu können, muss er bereit sein, ihren Schmerz mitzufühlen, damit sie nicht allein leiden müssen. Das macht zwar für die Menschen keinen Unterschied, aber für Gott.”
Der Junge ging und versuchte zu verstehen. Jedoch begriff er den Sinn und Wert des Ganzen nicht in seiner Gesamtheit.
Später an diesem Tag ging er auf einer Wiese spazieren. Er sann noch immer über die Worte seines Großvaters nach, bis er schließlich müde wurde und sich hinsetzte. An diesem heißen Sommertag war die Wiese voller Insekten. Eine kleine Fliege wollte sich auf seiner Stirn breit machen. Mit einer raschen Bewegung fing er sie ein. In der Höhlung seiner Hand hielt er ihr Leben. Plötzlich empfand er selbst all den Schrecken und das Zittern dieser Fliege. Ihre Angst wurde seine eigene. Als er sie endlich aus seiner zitternden Hand freiließ, fühlte er plötzlich ein Glühen und wusste, dass er jetzt einer der Gerechten ist.
Liebe ist mehr, als nur offen sein für die Qual der anderen; sie ist die Bereitschaft, mit dem Wissen zu leben, dass wir nichts tun können, um den anderen von seinem Schmerz zu befreien.