Das Grundgesetz, die Demokratie und der SPD-Mitgliederentscheid

Der taktische Zug Gabriels, die Zustimmung zur Großen Koalition von einem Basisvotum abhängig zu machen, gerät erwartungsgemäß in die Kritik. Eine Argumentationslinie, die gerade besonders gerne bemüht wird, ist der demokratietheoretische Aspekt: kann es fair sein, dass eine Zahl von 94.600 Menschen (das Mindestvotum von 20% der 473.000 SPD-Mitglieder) über das Schicksal der nächsten Koalition entscheidet? Schaffen wir da nicht einen Zwei-Klassen-Wähler? Einer, der einmal abstimmt (bei der Bundestagswahl) und einen, der noch einmal abstimmt (beim Mitgliederentscheid)? Die Antwort ist eindeutig: na klar tun wir das. Aber von der Verfassung her ist das mit Sicherheit kein Problem. Der kommt der Mitgliederentscheid näher als die bisherige Praxis. Ist das eine gute Sache? Ein entschiedenes "Vielleicht".
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Zuerst einmal die rechtlichen Hintergründe. Gegen den Entscheid wird gerne Grundgesetzartikel 28 vorgeführt, der den Grundsatz des Freien Mandats enthält (aus dem viele, fälschlicherweise, die Verfassungswidrigkeit des Fraktionszwangs ableiten). Sigmar Gabriels neue Verteidigungsstrategie ist es, dem Artikel 21 entgegenzustellen, der die Mitwirkung der Parteien am politischen Willensbildungsprozess festschreibt. Das kommt Gabriel natürlich gelegen, denn er kann sein taktisches Manöver so als Beitrag zur Demokratie verkaufen, innerparteilich wie generell. Dumm für seine Gegner ist nur, dass er Recht hat. Den Parteien wird im Grundgesetz die Mitwirkung am politischen Willensbildungsprozess zugewiesen, der im Parteiengesetz (auf das das Grundgesetz explizit Bezug nimmt, bevor jemand dessen Legitimität in Frage stellen will) weiter ausgeführt wird. Paragraph 1 des Parteiengesetzes besagt unter Anderem Folgendes, Hervorhebungen von mir:
(2) Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen.
Sorry, aber wer behaupten will, der SPD-Mitgliederentscheid liefe dem irgendwie gegen, braucht in meinen Augen schon echt gute Argumente. "Alle Gebiete des öffentlichen Lebens" schließt das Parlament mit ein und der Einfluss auf die "politische Entwicklung in Parlament und Regierung" ist gewissermaßen die Definition einer Abstimmung über einen Koalitionsvertrag. Da die SPD über das Programm abgestimmt hat, soll sie es nun in den Prozess staatlicher Willensbildung einführen - was sie tut, indem sie eine Koalition mit der CDU eingeht, die möglichst viele ihrer Programmpunkte wiederspiegelt. Und die SPD macht die Verbindung zwischen Volk und Staatsorganen zumindest etwas lebendiger. Das verfassungsrechtliche Argument ist daher völliger Unsinn. Es entspringt in meinen Augen einem populären Missverständnis darüber, was das Freie Mandat des Abgeordneten bedeutet. Es wird beständig in die politische Diskussion geworfen, fast immer in der Absicht, die präferierte eigene Politik durchzusetzen (indem Abgeordneten unterstellt wird, für die jeweils abgelehnte Politik nur aus Fraktionszwang zu stimmen und in Wirklichkeit dagegen zu sein). Der Fraktionszwang ist aber nicht verfassungswidrig, genausowenig wie der SPD-Mitgliederentscheid. Wäre er das, so wäre die gesamte bisherige Geschichte der bundesdeutschen Demokratie verfassungswidrig. Das ist zwar möglich - wir hatten auch lange ein verfassungswidriges Wahlrecht - aber als BVerfG-Entscheidung gelinde gesagt unwahrscheinlich, was die Beteiligten wohl auch wissen, denn sonst hätten wir mindestens von der LINKEn eine Klage vorliegen. Haben wir aber nicht. Das Freie Mandat besagt, dass niemand den Abgeordneten zwingen kann, auf eine bestimmte Art und Weise abzustimmen. Und das ist Fakt, das haben Abweichler immer wieder bewiesen. Das Schlimmste, was ihnen passieren kann, ist der Ausschluss aus der Fraktion. Dann können sie den ganzen Rest der Legislaturperiode abstimmen, wie sie wollen. Und die Partei wird sie bei der nächsten Wahl nicht mehr aufstellen, was aller Wahrscheinlichkeit nach das Ende der Politikkarriere bedeutet. Aber so ist das halt mit der Freiheit, sie hat manchmal unangenehme Konsequenzen. Auch die Meinungsfreiheit schützt nur das Recht, dumme Sachen zu sagen, aber nicht vor den Konsequenzen der Freien Rede. Das hat etwa Thilo Sarrazin eindrücklich erfahren dürfen. Jede andere Vorstellung ist auch Unsinn. Es ist also diese Folklore vom Freien Mandat, die den aktuellen Wirbel um den Entscheid verursacht. Noch einmal: obwohl in seinen Aussagen eindeutig parteipolitisch motiviert, hat Gabriel schlicht Recht. Bei der CDU entscheiden keine 20 Leute über den Koalitionsvertrag, bei der SPD sind es wenigstens mindestens 95.000, im besten Fall sogar 473.000. Das ist natürlich weniger als die Masse der Rund 61 Millionen Wahlberechtigten, aber deutlich mehr als 20. Bleibt die Frage, ob der Mitgliederentscheid, obgleich verfassungsrechtlich unbedenklich, eine gute Sache ist. Ich stehe dem zwiespältig gegenüber. Es war ein gelungenes taktisches Manöver von Gabriel, das wesentlich zum Verhandlungserfolg beim Mindestlohn beigetragen haben dürfte. Aber wie das bei der Demokratie eben so ist, kann das natürlich nach hinten losgehen. Es war ebenfalls gelungen von Gabriel, dass er klarstellte, dass die Abstimmung nicht die Abgeordneten zu etwas zwingt, sondern die Parteiführung (die den Abgeordneten die Entscheidung schlicht nicht geben würde, wenn der Vertrag abgelehnt wird, was die Freiheit des Mandats erhält). Aber es muss nicht immer im Sinne der Parteiführung laufen, und es kann gut sein, dass die Abstimmungen zukünftig zu einem Kampfmittel der innerparteilichen Opposition werden, die die SPD vollständig zerlegen und jede Umsetzung sozialdemokratischer Inhalte unmöglich machen (oder auch nur eine Regierung mit der Partei). Genauso ist es möglich, dass der Mitgliederentscheid zu einem Standarddruckmittel bei den Koalitionsverhandlungen wird. Ich glaube das allerdings nicht; nicht nur wegen der oben beschriebenen Gefahren, sondern auch, weil CDU und FDP keine so aktive Basis haben. Sie könnten das überhaupt nicht glaubwürdig inszenieren. Wenn überhaupt würde die Kritik bei der CDU von Rechts kommen und damit auch der Parteiführung sehr ungelegen sein, weil sie in der Öffentlichkeit so hässlich wirkt, oder aber die Annahme steht ohnehin nicht zur Debatte, so dass der Entscheid nicht als Druckmittel taugt. Mit Ausnahme dieser Legislaturperiode wird der Einfluss des Mitgliederentscheids als politischem Druckmittel, Werkzeug oder Waffe daher wahrscheinlich eher überschaubar bleiben. Lustig würde es nur, wenn es tatsächlich 2017 zu einer Rot-Rot-Grünen Koalition kommen sollte, bei der alle drei Parteien einen solchen Entscheid abhalten. Das würde die Möglichkeit dieser Koalition wahrscheinlich schneller in Luft zerblasen als ein Kanzleramtsanspruch Oskar Lafontaines.

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