"Das größte genetische Experiment, das jemals am Menschen durchgeführt wurde"

Von Ingo Bading @ingo_34
"Das indische Kastensystem war das größte genetische Experiment, das jemals am Menschen durchgeführt wurde."
("The caste system in India was the grandest genetic experiment ever performed on man.”)
So lautet eines der vielen eingängigen Zitate, die, formuliert von berühmten biologischen Vordenkern wie Charles Darwin oder Theodosius Dobzhansky, Zusammenhänge auf den Punkt bringen und deshalb immer wieder einmal gerne zitiert werden. Nämlich dann, wenn eben auf diese Zusammenhänge selbst das Augenmerk gerichtet werden soll. Übrigens stammt auch dieses Zitat - sollte es noch jemanden verwundern? - vom "großen" Theodosius Dobzhansky. Jedenfalls ist dieses Zitat auch wieder einer neuen genetischen Studie über Indien vorangestellt worden (2, pdf.), die unter der Koautorschaft des britischen Humangenetikers Chris Tyler-Smith veröffentlicht worden ist. Und tatsächlich beherbergt Indien ja
"eine der kulturell heterogensten menschlichen Gesellschaften überhaupt",
wie es in einer anderen Studie (3) heißt. Jeder Inder gehört offiziell zu einer von 4.635 Gemeinschaften (also Ethnien oder Kasten) in Indien. Schon im Jahr 1983 war dazu in den "Annals of Human Biology" eine lesenswerte Studie erschienen mit dem Titel:
"Die Bedeutung des indischen Kastensystems hinsichtlich der evolutionären Anpassung - eine ökologische Perspektive"
("Adaptive significance of the Indian caste system: an ecological perspective")
(1, pdf.). Diese Studie des indischen Biologen Madhav Gadgil (geb. 1942) gibt einen guten Eindruck von dem vielfältigen Zusammenleben und von dem vielfältigen Aufeinander-angewiesen-Sein der zahlreichen traditionellen, endogam lebenden Stämme und Kasten in der indischen Gesellschaft. Sie gibt auch einen guten Eindruck von der jeweilig recht einzigartigen ökologischen und wirtschaftlichen Spezialisierung und "Einnischung" jeder einzelnen Kaste und jedes einzelnen Stammes sowohl in die indische Gesamtgesellschaft, als auch in die jeweiligen natürlichen Lebensbedingungen und Klimazonen vor Ort.
Ein spannendes Thema, diese vielfältigen Verflechtungen von Gruppen nun zusätzlich noch mit etwaigen jeweiligen genetischen (Fitneß-)Interessen von endogamen Stammes- und Kasten-Gruppen in Abgleich zu bringen, so wie man es ja auch schon im Titel bei dem Begriff "adaptive" heraushören mag. (Oder sie auf jeweilige "gruppenevolutionäre Strategien" hin zu untersuchen.)
Und auf solche Dinge wird dann auch tatsächlich am Ende des Aufsatzes (S. 473) hingedeutet, wenn ausgeführt wird, daß man die in diesem Aufsatz erforschten wirtschaftlichen Spezialisierungen und "Einnischungen" der jeweiligen Kasten und Stämme künftig auch noch unter der breiteren Perspektive der Gen-Kultur-Koevolutions-Theorien von Edward O. Wilson & Charles Lumsden (1981) und Luigi Luca Cavalli-Sforza & Marcus Feldman (1981) erforschen wolle. An welcher Stelle Gadgil selbst seither noch einmal auf diese Ansätze zurückgekommen ist, ist einer schnellen Literatur-Recherche nicht zu entnehmen.
Aber schon die Veröffentlichungsliste dieses innerhalb der Forschung höchstens wenigen Kennern *) bekannten indischen Anthropologen Madhav Gadgil weist viele weitere, ähnlich interessante Themen auf. Schon 1975 veröffentlichte er zum Beispiel - und zwar über Edward O. Wilson - eine theoretische Studie zum Thema Gruppenselektion (pdf.). Er könnte also zusätzlich zu der anregenden Studie von 1983 noch mancherlei Anregendes verfaßt haben oder weiterhin zu verfassen im Sinn haben.
1. In China genetische Einebnung, in Indien genetisches Kontrast-Programm zwischen Gruppen
Aber genau solche Fragestellungen werden auch schon in der genannten neuen genetischen Studie von 2008 angegangen. (2) Und zwar anhand der genetischen Vielfalt, die das Y-Chromosom bei Menschen verschiedener Stämme und Kasten in Indien aufweist. Es wird die genetische Vielfalt innerhalb und zwischen verschiedenen Stämmen und Kasten in Indien verglichen mit der genetischen Vielfalt innerhalb und zwischen "Populationen" in China. Eine Vergleichbarkeit ist ja schon insofern gegeben, als sowohl in Indien wie in China heute jeweils über 1 Milliarde Menschen leben. Hinsichtlich Chinas sind in die Studie auch so unterschiedliche ethnische Gruppen ("Populationen") mit einbezogen worden wie die Ewenken, die Tibeter, die Uiguren, die Koreaner. Daneben zahlreiche lokale Han-Gruppen und zahlreiche südchinesische ethnische Populationen, die aber zumeist heute schon sehr weitgehend "sinisiert" sind. (Deshalb wohl auch wird in der Studie durchgängig bezüglich China von "Populationen" gesprochen, während bezüglich von Indien von "Ethnien" und "Kasten" gesprochen wird.)
Nach den Ergebnissen dieser Studie sind nun die genetischen Unterschiede zwischen den heutigen Stämmen und Kasten in Indien deutlich "kontrastreicher", "konturenreicher", "unebener" als zwischen den heutigen "Populationen" in China, sogar dann, wenn in China solche Gruppen wie die Uiguren mit hineingenommen werden. Einerseits ist also - insgesamt gesehen - die genetische Einheitlichkeit innerhalb der Stämme und Kasten Indiens größer als die genetische Einheitlichkeit innerhalb der jeweiligen untersuchten Populationen Chinas. Andererseits ist die genetische Vielfalt zwischen den Stämmen und Kasten Indiens größer als die zwischen den Populationen Chinas.
Während also innerhalb von China die genetischen Populationsunterschiede im Vergleich zu Indien mehr "eingeebnet" erscheinen - wie gesagt, sogar unter Einschluß solcher Gruppen wie der Uiguren -, scheinen sie in Indien deutlicher prononciert und "unebener", "bergiger" in den genetischen Häufigkeitsverteilungen zu sein.
Es drängt sich geradezu der Eindruck auf - und dies wäre schon Teil einer selbständigeren Interpretation der Ergebnisse dieser Studie -, als ob der starke kulturelle Trend zur konfuzianischen "Vereinheitlichung" und zum Konformismus in China, zur "Sinisierung" seit hunderten oder tausenden von Jahren - man kann sicherlich auch sagen: der kulturelle "Druck" diesbezüglich innerhalb der dominierenden Han-Bevölkerung und von dieser auch gegenüber anderen ethnischen Gruppen - sich auch auf genetischer Ebene in Richtung auf eine stärkere Einebnung genetischer Unterschiede zwischen Gruppen ausgewirkt hat. Also auf eine gleichmäßigere Verteilung der genetischen Vielfalt auf die Gesamtbevölkerung. Auf eine Einebnung von genetischen Gruppenunterschieden - zumindest im Vergleich zu Indien. Die genetische Vielfalt ist jedenfalls innerhalb der chinesischen (Sub-)Populationen größer und zwischen den chinesischen (Sub-)Populationen geringer als in Indien.
2. Nicht die Kasten, sondern die Stämme in Indien stellen "das größte genetische Experiment am Menschen" dar
In Indien weist nun zusätzlich noch die ältere und hier offenbar auch noch besser erhaltene soziale und kulturelle Lebensform des "Stammes" eine geringere "innerstammliche" genetische Vielfalt auf - noch heute, als sowohl die Kasten in Indien als auch die "Populationen" in China. Das heißt, sie weist eine größere genetische Einheitlichkeit auf. Und die vielleicht in der Spätbronzezeit (um 1.500 v. Ztr.) auf der Grundlage vieler städtischer Vorgängerkulturen in Indien eingeführte soziale Lebensform der "Kaste" weist demgegenüber - also verglichen mit den indischen Stämmen - eher in Richtung Einebnung der genetischen Gruppenunterschiede. Diese genetische Einebnung ist aber bei den indischen Kasten noch nicht so weit gegangen, wie in China zwischen den verschiedenen Populationen.
Würden sich diese Forschungen bestätigen, wären sie schon einmal einigermaßen frappierend. Welche Schlußfolgerungen aber könnten aus diesen Ergebnissen abgeleitet werden, zumal, wenn versucht wird, sie in Abgleich zu bringen mit den Ansätzen der Studie von 1983?
Gadgil legte 1983 den Schwerpunkt der Argumentation auf die Tatsache der Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende langen Koexistenz von unterschiedlichen Gruppen, die durch die Umsicht und Sorgfalt ("prudence"), ja, Rücksichtnahme gegenüber der Ökologie ihres Lebensraumes und auch gegenüber jeweilig koexistierenden ethnischen Gruppierungen gekennzeichnet gewesen wäre. Jahrhunderte lange kulturelle Koexistenz hat hier also zusammen mit der Aufrechterhaltung der ethnischen Heiratsschranken zu einer prononcierten Verteilung der genetischen Gruppenvielfalt geführt.
Führen Verwandten-Altruismus und/oder altruistisches Bestrafen zu Rücksichtnahme zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen in Indien?
Ein weitergehender Gedankengang wäre: Größere genetische Einheitlichkeit innerhalb eines Stammes oder einer Kaste könnte Verwandten-Altruismus fördern. Oder besser gesagt: Der Zusammenhalt des Stammes oder der Kaste selbst könnte durch verwandten-altruistische Motivationen stabilisiert worden sein. (Siehe etwa die Forschungen von Frank Salter und anderen.) Andererseits aber wäre es erforderlich, in eine allgemeinere Theorie der Evolution menschlichen sozialen Verhaltens miteinzubeziehen, daß eine Herabsenkung der genetischen Einheitlichkeit innerhalb einer Population und eine Verringerung der genetischen Unterschiede gegenüber anderen Populationen durch andere, evolutiv jüngere Formen von Altruismus und Kooperationsbereitschaft kompensiert werden müßten, als jene, die durch verwandten-altruistische Motivationen hervorgerufen werden.
Da denkt man zuerst an Institutionen und religiöse Vorstellungen, die durch einen tatsächlichen oder vorgestellten "dritten Bestrafer" im gesellschaftlichen "Third-Party-Punishment-Spiel" egoistisches Täuschen und Trittbrettfahren im sozialen Austausch von Leistungen verhindern oder vermindern können. (Das sogenannte "altruistische Bestrafen" durch gegenseitige soziale Kontrolle, bzw. die Überwachung durch unbeteiligte Dritte wie Polizisten, Götter, Priester und andere Dinge mehr.)
Gruppenkonkurrenz? Gruppenselektion?
In jedem Fall deutet sich an, daß in dem über so viele Jahrhunderte hinweg auch vergleichsweise harmonischen Zusammenleben von Gruppen in Indien Vorgänge von "Gruppenkonkurrenz" oder gar von "Gruppenselektion" in etwas anderer Weise abgelaufen sein könnten, als zeitgleich in China. Die traditionelle indische, kulturelle Sozialpsychologie, so möchte man mutmaßen, konnte ethnische Vielfalt besser tolerieren und mit ihr umgehen, als die zeitgleiche chinesische.
Man müßte also, so drängt sich der Vergleich auf, in der chinesischen Geschichte deutlichere Mechanismen der genetischen Einebnung - sicherlich auch über Genozide und Suizide (ethnisch und verhaltensgenetisch deutlich von der Mehrheitsbevölkerung abweichender Bevölkerungen und Menschen) - beobachten, als in der indischen Geschichte. Weil der ethnische Konformitätsdruck hier zeitweise (also z.B. nach der kulturell offenen Tang-Zeit) wesentlich größer gewesen sein könnte.
Aber auch viele andere gedankliche Ansätze könnten sicherlich an diesem "größten genetischen Experiment, das jemals am Menschen durchgeführt wurde", erprobt werden und auf empirische Gültigkeit hin überprüft werden. Möglicherweise bietet also gerade der Vergleich zwischen Indien und China schon ein ganz gutes gedankliches und datenmäßiges "Experimentierfeld", um Theorien zur Evolution menschlichen altruistischen Verhaltens in Stammesgesellschaften und darüber hinaus auf ihre Robustheit zu testen. Und dabei könnte es dann sinnvoll sein, vor allem auch den letzten Satz der Studie von 2008 zu berücksichtigen:
"Das 'größte Experiment, das jemals durchgeführt wurde' mag tatsächlich eher jenes gewesen sein, das die sozialen und genetischen Strukturen der Stämme hervorgerufen hat, als jenes, das das Kastensystem hervorgebracht hat."
("The 'grandest experiment ever performed' may in fact have been the one which produced the tribal social and genetic structure, rather than the caste system.")
Diese Aussage führt nämlich noch zu einer anderen Frage: Warum glauben Evolutionsforscher, anhand von kontrastreicher, menschlicher (genetischer) Populationsvielfalt mehr lernen zu können als anhand von eher eingeebneter genetischer Populationsvielfalt? Sicherlich weil sie richtigerweise intuitiv davon ausgehen, daß es insgesamt die genetische Vielfalt von Populationen ist, die erklärt werden muß, und daß ein Fall wie China demgegenüber sich dann eher nur als ein "Spezialfall" der Humanevolution erweisen könnte, von dem höchstens im Gegensatz zu und im Vergleich mit anderen Fällen allgemeingültigere Evolutionsgesetze abgeleitet werden könnten.
Aber niemand sollte China und seine geschichtlichen Lebensgesetze unterschätzen. Seine gegenwärtigen explosiven Zuwachsraten führen es wirtschaftlich schon ziemlich bald an seine beiden ostasiatischen "Brüder" (nein, im ostasiatischen Verständnis: "Söhne") heran, nämlich an Japan und Südkorea. Indien bleibt demgegenüber mit seiner viel gepriesenen ethnischen Vielfalt wohl auch weiterhin im weltweiten Vergleich wirtschaftlich weit zurück. Mit einer etwaigen genetischen Vereinheitlichung und Einebnung zwischen den (Sub-)Populationen Chinas könnte also - ebenso wie in Japan und Korea - auch der Gewinn von Entwicklungspotentialen einhergegangen sein, die in dieser Weise heute in Indien nicht so deutlich vorhanden sein mögen.
Es gibt also sicherlich noch viele andere, spannende "genetische Experimente am Menschen", die ähnliche Bedeutung haben, wie jenes Jahrtausende alte in Indien.
- Übrigens hat Jared Diamond in einem "Peeling the Chinese Onion" benannten Nature-Artikel 1998 einmal gemutmaßt, daß die Einheitlichkeit der chinesischen Geographie im Gegensatz zur Vielfalt der europäischen Geographie zu wesentlichen Anteilen für den unterschiedlichen Verlauf der (neuzeitlichen) Geschichte in China und Europa verantwortlich sein könnte. Ob er da wohl berücksichtigt hat, daß dann auch in dem geographisch einheitlicheren Indien (ebenfalls nur wenige Inseln oder Halbinseln) ein mit China vergleichbarer Geschichtsverlauf festgestellt werden müßte? Und weisen die Daten der hier behandelten Studie von 2008 nicht doch noch in eine ganz andere Richtung?
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*) Zum Beispiel in der Studie "Diaspora Peoples" von Kevin MacDonald (enthalten in der ersten Taschenbuch-Ausgabe von "A People That Shall Dwell Alone", 2002), in die sich die Arbeit von Gadgil thematisch gut hineinfügen lassen würde, ist ein Autor Gadgil nirgends erwähnt.
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Literatur:
1. Gadgil, M.; Malhotra, K.C. (1983): Adaptive significance of the Indian caste system: an ecological perspective. Annals of Human Biology, 10 (5). 465 -477.
2.
Denise R. Carvalho-Silva, & Chris Tyler-Smith (2008). The Grandest Genetic Experiment Ever Performed on Man? –
A Y-Chromosomal Perspective on Genetic Variation in India Int J Hum Genet, 8 (1-2), 21-29

3.
N V Joshi, M Gadgil, & S Patil (1996). Correlates of the desired family size among Indian communities PNAS, 93 (13), 6387-6392