Das kollektive Vergessen - und Verzeihen - gegenüber früheren Schandtaten ist ein Dauerfeature im politischen Betrieb, nicht nur in den USA (in Deutschland macht man sich wenig Freunde damit, wenn man neben der Politik der Westbindung und Ludwig Erhards sozialer Marktwirtschaft auf die weniger schönen Elemente von Adenauers Innenpolitik hinweist). Wie jüngst hier im Blog diskutiert, ist das Umgehen mit diesen Brüchen ein kompliziertes Problem, auf das es keine einfache Antwort gibt. Das wusste auch schon Adenauer, und sein "Schlussstrich" mag sowohl essenziell für den Aufbau der BRD gewesen sein als auch ihr gesellschaftliches Klima nachhaltig vergiftet haben.
Ähnlich sieht es auch in den USA aus. Doch wo in Deutschland mittlerweile vergleichsweise ordentlich aufgearbeitet wurde, welche Altnazis in der CDU Karriere machten und was Papa (und mittlerweile Opa und Uropa) damals wirklich gemacht haben, steht diese Art der Aufarbeitung in den USA weitgehend noch aus, sowohl für die "großen Themen" der Sklaverei und annähernden Ausrottung der Ureinwohner (letzteres habe ich sehr kontrovers schon von Jahren im Geschichtsblog diskutiert) als auch für die Schandtaten der jüngeren Kandidaten und Präsidenten, um die es an dieser Stelle gehen soll.
Denn dieses Weißwaschen hat Methode, und wie so oft in der amerikanischen Politik ist es ein Phänomen vor allem auf der Rechten. Während sich Lyndon B. Johnsons Ruf noch immer nicht vom Vietnamkrieg erholt hat und wohl auch nicht wird und die US-Linke gerade erneut die Lewinsky-Affäre (und andere Affären Clintons), seine Interventionen auf dem Balkan und in Afrika und unrühmliche Vorreiterrolle bei der Deregulierung des Bankensektors zurück aufs Tablett holt, werden auf der anderen Seite die Iran-Kontra-Affäre, der ganze War on Terror und Watergate effektiv für bedeutungslos erklärt.
Dahinter steckt auf der einen Seite eine organisierte Kampagne. Dies ist besonders evident bei Ronald Reagan, der - heute kaum zu glauben - das Amt mit sehr mittelmäßigen Beliebtheitswerten verließ (und dessen designierter Nachfolger George H. W. Bush auch dank der massiven Fehler seines Gegners Michael Dukakis eine dritte Amtszeit erwarb) und in der ersten Hälfte fast vergessen war, ehe konservative PACs (vor allem auf Betreiben des Steuersenkungsfanatikers Grover Norquist) moderate Millionenbeträge darin investierten, Reagan von der historischen Figur zur Marke zu verändern.
Der Erfolg dieser Maßnahmen ist evident; Reagan hat religiösen Status in der GOP, und niemand kommt ohne die Möglichkeit aus, sich als sein Nachfolger zu präsentieren. Kritik an seiner Amtszeit ist praktisch unmöglich (während Bushs Amtszeit praktisch vergessen ist, weil er es wagte, die Handlungsfähigkeit des Staates durch verantwortliche Steuerpolitik zu sichern). Reagan, dessen Amtszeit in den 1990er Jahren ungefähr den Stellenwert hatte, den heute Bush 41 oder Clinton haben - generell in Ordnung, aber nicht außergewöhnlich - gilt indessen als Säulenheiliger, als Titan.
Auf der anderen Seite ist das kollektive Vergessen aber ein völlig normaler Zug. Die Zustimmungsraten der Präsidenten schießen regelmäßig in die Höhe, kaum dass sie ihr Amt verlassen haben (vor der Kandidatur seiner Frau kratzte Bill Clinton an den 80%!). Auch dieses Phänomen ist nicht spezifisch für die USA; so schaffte es etwa Helmut Schmidt, vom gescheiterten Kanzler Anfang der 1980er Jahre zu der grauen Instanz der deutschen Politik zu werden, während Kanzler Kohl die Schwarzgeldaffäre schon lange nicht mehr angelastet wird. Schröder wird diese Amnesie wohl nur deshalb nicht zuteil, weil er darauf besteht, seine Schwächen beständig unter das Scheinwerferlicht zu stellen.
Warum aber ist dieses Vergessen problematisch? Ich möchte dies in zwei Bereiche teilen; einmal auf vergangene Staatenlenker, die seither vor allem in der Erinnerung wirken, und einmal auf gescheiterte Kandidaten, die seither andere Karrierewege verfolgen.
Der Fall Nixon ist harmlos genug. Hier geht es vor allem um die rückwirkende Bewertung seiner Amtszeit, was hauptsächlich für Historiker interessant ist. Problematischer wird es bei Reagan. Seine Vergötterung führt dazu, dass historisch unhaltbare Simplifizierungen seiner Politik ("hat die Russen totgerüstet") plötzlich zur offiziellen Doktrin werden. Gerade im Fall Reagans führte dies zu einer äußerst ungesunden Fixierung auf "Stärke" und Verzicht auf Diplomatie, was sowohl dem historischen Reagan nicht gerecht wird als auch in der internationalen Politik brandgefährlich ist.
Geradezu fahrlässig wirkt dieses Vergessen im Fall George W. Bushs. Zwar geben sich die Republicans weiterhin Mühe, seine Existenz weitgehend zu verleugnen, aber der Mann selbst - nachdem er sich acht Jahre lang weise auf politische Abstinenz beschieden hatte - unternahm in letzter Zeit einige zaghafte Versuche, sein Image zu rehabilitieren, vor allem mit Selbstironie ("Miss me yet?"), die durch den zwangsläufig positiven Vergleich mit Trump ermöglicht wird. Hier könnte man natürlich sagen: So what? Aber das Vergessen zeigt gerade deutliche Folgen. So hat Trump einiges Personal aus Bushs Amtszeit reaktiviert, das durch, sagen wir, eine gewisse Agnostik gegenüber Völker- und Menschenrecht auffällt, und gerade wird ein kurzer, einfacher Präventivkrieg mit ebenso einfachen nation building gegen Nordkorea diskutiert, als ob das Irakdesaster nie stattgefunden hätte.
Weniger bedeutsam ist naturgemäß das Weißwaschen bisheriger Kandidaten. Das ist vor allem aus meiner Perspektive als Parteigänger der Democrats ärgerlich, weil es den Leuten ermöglicht, weitere Karrieren zu verfolgen, ohne für ihre Untaten zu büßen. Das betrifft in jüngerer Vergangenheit vor allem John McCain und Mitt Romney. Beiden war es möglich, sich als prinzipientreue Kämpfer eines besseren Konservatismus' zu inszenieren, ohne dass ihre eigenen Beiträge zum aktuellen Trump-Desaster thematisiert würden.
Und hier geht das über die Parteinahme hinaus, denn das Whitewashing der Wahlkämpfe 2008 und 2012 verhindert, dass eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Trumpismus stattfindet - was dann regelmäßig zu miesen Analysen führt, in denen Trump als ein den Republicans oder dem Konservatismus wesensfremdes Element dargestellt und Überraschung darüber ausgedrückt wird, dass passiert ist, was passiert ist.
In McCains Fall geht es um Sarah Palin. Praktisch alle medialen Beobachter haben das Desaster dieser Personalentscheidung schon längst vergessen und vergeben, als McCain wissentlich eine grotesk ungeeignete Person als Vizepräsidentin installieren wollte, nur um einige billige politische Punkte zu machen, und damit einen aggressiven Anti-Intellektualismus hoffähig machte, aus dem in direkter Linie die Tea-Party-Bewegung folgte.
Bei Mitt Romney wird gerne großzügig darüber hinweggesehen, dass Romney sich im gesamten Wahlkampf 2012 weigerte, klar Stellung gegen die Verschwörungstheorien um Obamas Geburt zu positionieren (was McCain noch anders hielt, was zu seiner Ehrenrettung gesagt werden muss) und den Ritterschlag des obersten Verschwörungstheoretikers suchte, Donald Trump, und den Wahlkampf mit ungeheuer rassistischen Tönen unterfütterte ("self-deportation", unter anderem). Nach dessen Wahl 2016 war sich Romney auch nicht zu schade, seinen Ring in der Hoffnung zu küssen, Außenminister werden zu können. Immer noch wird Romney als Beispiel des netten, prinzipientreuen Republicans gefeiert, als ob diese Dinge nie vorgekommen wären. Dabei ist Romney selbst ein harter Rechtsextremer, er tut es nur mit einem Lächeln. Prominente konservative Trump-Kritiker wie David Frum nutzen Romney daher gerne als idealisierten Gegenentwurf (ähnlich wie aktuell John Kasich, im Übrigen), was im Falle ihres Sieges dann zur Überraschung in den Leitmedien führen würde, dass diese Leute dann eben doch die übliche rechtsextreme GOP-Linie fahren.
Selbstverständlich finden wir diese Mechanismen auch auf der Linken, aber deren Neigung zu sektiererischem Richtungskampf und Bestehen auf dem moralischen high ground sorgt dafür, dass Vergöttlichungen à la Reagan nicht vorkommen. Das schadet der Partei politisch - das Verpassen der Chance, Franklin D. Roosevelt zum demokratischen Reagan zu machen etwa beschränkt ihre politische Handlungsfähigkeit deutlich - ist aber deutlich besser für die demokratische Hygiene, weil nicht die Identität der Hälfte der Nation an der Unbeflecktheit einer vergöttlichten Person abhängt. So kann man etwa problemlos Roosevelts abscheuliche Internierungspolitik gegenüber den japanischstämmigen Amerikanern nach 1941 oder die ineffektive erste Phase des New Deal thematisieren, was dann verhindert, dass es ein progressives Pendant zur Laffer-Kurve gibt. Politisch doof, aber für das Gesamtresultat sicher deutlich besser.
Ein jüngeres Beispiel auf der Linken wäre der Wahlkampf von Bernie Sanders. Allzugerne wird vergessen, dass Sanders' Erfolge auf undemokratischen caucuses beruhten und dass er ein maßgeblicher Verstärker für alle Arten von Verschwörungstheorien war, die den Wahlkampf 2016 plagten. Auf der Linken ist wohl nur Jill Stein noch schlimmer, was das Verbreiten von Verschwörungstheorien angeht, und niemand hat so straff organisierte politische Störergruppen unter sich gehabt wie Sanders. Aber das ist bereits lange im Nebel des Vergessens verschwunden.
Diese Mechanismen werden allesamt auch auf Trump angerwendet werden. Es ist nicht gerade unwahrscheinlich, dass er das Amt als einer der unbeliebteren Präsidenten verlassen wird. Die oben beschriebenen Mechanismen allerdings werden voraussichtlich schnell dafür sorgen, dass die rassistische und sexistische Rhetorik Trumps in Vergessenheit geraten und er stattdessen positiv mit dem nächsten Spinner, der aus den rechten Fiebersümpfen entsteigt, konstrastiert wird.
In diesen Mechanismen liegt auch die Bedeutung, gegen dieses Vergessen anzukämpfen. Wenn man verhindern will, dass Folterer die CIA führen, dass das republikanische Think-Tank-Establishment offen Präventivkriege gegen eine Atommacht diskutiert und dass Segregierungsmaßnahmen fröhliche Urständ feiern, dann muss man die Vergangenheit in den richtigen Kontext stellen und darf sich nicht an der Weißwaschung beteiligen. "Über die Toten nur Gutes" darf im politischen Bereich keine Geltung haben, denn was hier tot ist, kann doch niemals sterben, sondern erhebt sich erneut, härter und stärker.