Hartz IV und sein Sanktionsrepertoire, das der teils willkürlichen Auslegung von Kommunen und Sachbearbeitern unterordnet ist, hat eine Front geschaffen. An dieser Front gibt es Opfer verschiedener Provenienz. Meist sind es stumme Opfer, die keiner körperlichen Gewalt ausgesetzt werden, sondern der finanziellen Garotte, die langsam aber sicher die Atemwege zuschnürt. Und manchmal sind es Opfer in fortissimo, was heißt: nicht sie sind laut, sondern der Rummel um sie, um die körperlichen Übergriffe an ihnen. Wie sich letzte Woche zeigte, können diese Übergriffe auch tödlich sein.
Die Front scheint gnadenlos. Sie bringt Menschen in Stellung, sie läßt in Gräben, die wir Jobcenter getauft haben, Bürger aufeinander zielen. Sie macht Hass und Abneigung und manifestiert Feindschaften.
An dieser Stelle wurde oft genug darüber schwadroniert, wie man die, die nichts haben, die nichts mehr finden, die von einem Arbeitsmarkt aussortiert wurden, der rücksichtslos an Profite gebunden ist, behandelt werden, sofern sie einen Leistungsanspruch nach SGB II nachgewiesen haben. Erwerbslosigkeit ist kein Schicksal in den Behörden, die sich dieses Phänomens qua Gesetzgebung annehmen müssen. Kein Schicksal - es ist ein Makel, hin und wieder sogar eine Straftat oder ein Verbrechen. Arbeitslose sind ewige Opfer; Hartz IV und sein Menschenbild opfern sie darüber hinaus einer Moral, die Arbeitslosigkeit zum selbstverantwortlichen Versagen modifiziert. Aber in gewissen Sinne sind auch die, die aufgrund Berufes dazu verpflichtet sind, ihren im Sozialgesetzbuch erteilten Handlungsspielraum möglichst handlungsunfähig zu belassen, hin und wieder Opfer. Werden sie es, dann nicht selten unmittelbarer und physischer als die, die normalerweise geopfert werden.
Ein Einwurf: In Unzugehörig schreibe ich unter Auffassungen eines Gewalttäters, wie der Drangsal wirkt. Zur gesellschaftlichen Ächtung aufgrund Arbeitslosigkeit gesellt sich die entwürdigende Behandlung in Jobcentern hinzu. Der Erzähler schlägt seiner Arbeitsvermittlerin irgendwann die Faust ins Gesicht. Davor ist viel geschehen, auch von Gewalteinwirkung gegen sich selbst, berichtet der Erzähler im Vorfeld. Er schämt sich für seinen Gewaltausbruch, aber er entschuldigt ihn nicht - er war aus seiner Sicht, obwohl er ein pazifistisches Gemüt hat, Notwehr und wahrscheinlich folgerichtig. Er könne schließlich nichts dafür, derart gereizt worden zu sein. Die Behörde, die ihm in Form der Vermittlerin gegenübertrat, hat darauf hingewirkt - das SGB II hat gemacht, dass jemand zum Gewaltopfer wird; der Gesetzgeber hat, wenn man logisch weiterspinnt, alles dafür getan, dass da jemand die Faust ins Gesicht gedroschen bekommt.
Bevor es dazu kommt, muss etwas passiert sein. Oft ein langer Leidensprozess. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, weiß man noch nicht, was den Mann, der in Neuss eine Mitarbeiterin des dortigen Jobcenters erstach, ritt. Vielleicht kommt raus, er sei Alkoholiker gewesen, arbeitsscheu und cholerisch. Was heißt, es kommt raus - es wird eher rauskommen gemacht. All das wird als Deswegen verkauft werden - weil er so ist, hat er das getan. Ich vermute jedoch, dass diese vermeintlichen Attribute Ausdruck eines Leidensweges wären, die ihn zu dieser unsinnigen Tat führten. Das rechtfertigt nichts, erklärt aber vieles. Und selbst wenn gar nicht in diese Richtung begründet wird, selbst wenn der Mörder ein Mörder aus seltsamen Grunde ist, so ist doch wahr, dass die Gewalt in Jobcentern existiert - dann ist der Vorfall in Neuss immer noch Symbol für das, was Hartz IV aus dieser Gesellschaft macht.
Die Opfer, die im SGB II festgeschrieben sind, sehen oftmals keinen Weg mehr. Sie bewerben und bewerben sich, solange, bis sie keine Lust mehr, bis sie Absagen oder die Ignorierung ihrer Einsendungen zermürbt haben. Dann gelten sie als erwiesen arbeitsunwillig. Sie versuchen das bisschen Leben, das man ihnen anerkennt, in einem Surrogat von Würde zu fristen, begraben dabei jedoch alle Hoffnungen und werden dennoch von manchem miesen Charakter mit eigenem Bürostuhl drangsaliert. Was bleibt ist aufgestauter Frust, der in vielerlei ungesunde Handlungsweisen geleitet wird. Die einen flüchten sich in Räusche, die anderen entwickeln Hass auf Randgruppen oder sich selbst und wieder andere marschieren an diese hartzische Front, stechen auf Mitarbeiter der Behörde ein.
Nochmals: Das ist keine Rechtfertigung. Aber man muss den Anspruch haben, zu begreifen, woher das Potenzial für eine solche Handlung kommt. Man muss schon völlig hoffnungslos sein, wenn man glaubt, eine solche Handlung würde auch nur ansatzweise etwas verändern.
Und es ist auch nicht als obrigkeitshörige Entschuldigung gedacht, wenn es hier nun heißt, auch die Sachwalter des SGB seien Opfer. Sie werden es sicherlich ab und an - und sie werden dem Hass ausgesetzt und sind oft auch selbst dafür verantwortlich. Es sind genug miese Typen unter ihnen. Was nicht heißt, dass die Mitarbeiterin des Jobcenters in Neuss mies gewesen sein muss. Der Skandal ist aber, dass das geltende Sozialgesetz die Miesheit solcher Charaktere nicht einschränkt und unterbindet, sondern sie noch ausdrücklich ermutigt, ihnen Spielräume läßt, sie geradezu drängt, ihr Wesen möglichst authentisch an den Leistungsberechtigten auszutoben.
Hartz IV ist ein Freifahrtschein für Windbeutel und misanthrope Kreaturen; denen Handlungspielraum bei Sanktionen und Maßnahmen einzurichten, ist für die Eskalierung der Gewalt in Jobcentern maßgeblich. Eine herzlose und kalte Auslegung der Statuten, wie sie diverse Leiter von Jobcentern ihren klassistischen aber auch unbescholtenen Untergebenen oktroyieren, tut das Übrige.
Nochmaliger Einwurf: Jetzt, da ich weitergekommen bin im Text, lese ich vom Motiv des Mannes aus Neuss. Nicht ganz konventionell war es. Angst vor Datenmissbrauch, gab er an. Selbst die Staatsanwaltschaft räumt ein, dass der Mann verängstigt war, Opfer von Datenbetrügern zu werden. Es klingt irrational und ist doch sicher Beleg dafür, was man den Jobcentern zutraut - und Beleg dafür, dass für die Ängste eines Leistungsberechtigten keine Zeit, kein Platz ist. Es ist darüber hinaus Anzeichen dafür, dass Furcht etwas ist, womit der Arbeitslose alleine leben muss. Vielleicht war es Paranoia - vielleicht war er immer so und Hartz IV hat etwaige paranoide Affekte nicht aktiviert - aber förderlich ist dieses System für instabile Menschen nicht; es macht nicht gesund, es verschärft und begründet den psychischen und somit physischen Niedergang.
Das Motiv klingt irrational. Die Reaktion ist nicht angemessen, wenn man bei Messerstichen überhaupt je von Angemessenheit sprechen kann. In einem irrationalen System, in dem stets die Furcht vor Geldentzug wütet, in dem man sich ins Aussichtslose bewirbt und für diese Aussichtslosigkeit auch noch selbst verantwortlich gemacht wird, in dem man täglich hört, man sei nicht gut genug, zu unflexibel und zu bequem, ist das Irrationale Programm. Nicht zu verwechseln mit dem Absurden, denn das ist nach Camus die menschliche Erkenntnis, dass dem Elend kein Sinn abzuringen ist. Aber die Botschaft von Hartz IV ist doch, dass alles einem höheren Sinn unterordnet ist, dass die knappe Haltung von Erwerbslosen voller sinnvoller Sinnstiftungen steckt. Irrationale Strukturen und Auflagen, irrationale Botschaften von Sachbearbeitern und Vermittlern, irrationale Arbeitsplätze und Praktika machen das Irrationale in dem, der dieser irrationalen Flut zugeführt wird, zur Normalität. Man kann einem, der darin schwimmt, nicht den Vorwurf machen, sich damit benetzt und benässt zu haben.
Natürlich entfacht man nun den üblichen Opferdiskurs. Mitarbeiter der Jobcenter bekommen jetzt das Stigma gefährdeter Personen. Wenn man die Situation aber begreifen will, muss man die Gesamtheit sehen, muss man sehen, woher die Wut kommt, wer sie anstachelt, wer sie verschlimmert und wem die Situation nützt. All das wird nicht geschehen. Hartz IV-Bezieher sind jetzt nicht mehr nur faul und nutzlos, sondern auch noch gemeingefährlich. Dass sie die Opfer erster Stelle in einer Kausalkette sind, wird wieder mal kein Thema werden.