Das große Kanzlerranking, Teil 2: Willy Brandt


Angesichts des bevorstehenden Endes der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sind Diskussionen über die Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte in vollem Schwung. Um aber einschätzen zu können, wo Merkels Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.
Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings KanzlerInnen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich KanzlerInnen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist einE KanzlerIn nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.
Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, führen wir unsere Betrachtung fort. In unserer Serie zum großen Kanzlerranking haben wir in Teil 1 Konrad Adenauer untersucht. Dieses Mal ist die Reihe an Willy Brandt.

Platz 2: Willy Brandt (1969-1974)

Willy Brandts Kanzlerschaft markiert aus vielerlei Gründen eine Wasserscheide für die BRD. Ich würde nicht so weit gehen, es als eine "zweite Gründung der Republik" zu sehen (eine Formulierung, die viele Historiker für die Präsidentschaft Abraham Lincolns verwenden), aber kein anderer Kanzler hat die BRD so tiefgreifend verändert wie er. Dazu kommt, dass sich mit ihm, in den Worten Heinemanns, "ein Stück Machtwechsel" vollzog - der erste friedliche Übergang von Regierung zu Opposition. Die CDU tat sich bekanntlich schwer damit und arrangierte sich erst nach dem gescheiterten Misstrauensvotum 1971 und der folgenden krachenden Wahlniederlage 1972 mit der Oppositionsrolle.

Innenpolitik

Besonders innenpolitisch verwandelte die sozialliberale Koalition das Antlitz der BRD nachhaltig. Ein Großteil dieses Wandels fällt dabei in die Kanzlerschaft Willy Brandts; wir werden Helmut Schmidts Weichenstellungen an gegebener Stelle betrachten. Vor allem drei Schlagworte sind mit dem innenpolitischen Programm der beiden Brandt-Kabinette verbunden: "Wir bauen das moderne Deutschland" (der Slogan aus dem Wahlkampf 1969), "Mehr Demokratie wagen" (aus Brandts Regierungserklärung) und "Lebensqualität" (das Leitmotiv aus dem Wahlkampf 1972).
Der Anspruch Willy Brandts (viel weniger Helmut Schmidts oder Herbert Wehners, die beide für eine Fortsetzung der Großen Koalition plädierten) war es, Deutschland zu modernisieren und aktiv umzugestalten. Von der eher patriarchalisch-beaufsichtigenden Rolle, die die drei CDU-Kanzler gesehen hatten, glaubte er an die Notwendigkeit und die Durchführbarkeit von Reformen. Zu seinem Glück wandelte sich die FDP in dieser Zeit stark, eine Entwicklung, die in den Freiburger Thesen 1971 ihren Höhepunkt finden sollte, und trat mit einem ähnlichen Gestus, wenngleich anderen Aufmerksamkeitsschwerpunkten an. Ich will daher zuerst auf die vorrangig sozialdemokratischen Impulse eingehen, ehe wir die eher freidemokratischen betrachten.
Die erste große Weichenstellung war die so genannte Bildungsexpansion. Die grundsätzliche Entwicklung begann bereits in den 1960er Jahren mit der Schaffung weiterer Kapazitäten im Bildungswesen, aber erst im Kabinett Willy Brandt nahm sie richtig Fahrt auf. Die Universitäten öffneten sich dank neu eingeführter Maßnahmen wie dem Bafög für völlig neue Schichten (was ironischerweise die Rolle der Universitäten als Brutstätten des Protests und alternativer Lebensstile einrenkte). Immer mehr Kinder konnten das Gymnasium besuchen.
In einer Mammutreform aller Kultusministerien wurde das Schulsystem in jene Struktur gebracht, die wir heute noch kennen, mit klar abgetrennten, Primar-, Sekundar-1- und Sekundar-2-Stufen, letztere mit einem Notenpunktsystem, bei dem ein Großteil der Noten ins Abitur einfloss, das wiederum zur wichtigsten Zugangsvoraussetzung ins Studium avancierte - anders als vorher, wo Verbindungen und Stallgeruch entscheidend waren. Seither beugt an staatlichen Universitäten alles sein Haupt vor der Macht des Numerus Clausus.
Auch von der Demokratisierung wurden die Bildungsinstitutionen erfasst. SMV und Asta sind Entwicklungen, die auf diese Zeit zurückgehen, wenngleich sie die hochfliegenden Erwartungen ihrer Befürworter nie erfüllen konnten und in manchen konservativen Bundesländern wie Baden-Württemberg auch rasch zurückgefahren wurden oder nie zur Reife kamen.
Am durchschlagendsten war die Demokratisierung Brandts in der eigentlich politischen Arena, wo in den Parteien wesentlich mehr Mitspracherechte etabliert wurden (ein Trend, dem sich nach der Niederlage Barzels auch schnell die CDU anschloss, die unter Oppositionsführer Kohl eine Trendwende von der Honoratioren- zur Mitgliederpartei hinlegte), neue Wahlen eingeführt wurden, eine Gemeindereform das kommunale politische System der BRD komplett überholte (mit tief greifenden, bis heute wirkenden Veränderungen) und gänzlich neue Ansprüche an Transparenz und Offenheit der Politik gestellt wurden, die einen bis heute gültigen Standard darstellen. Die Regierungsweise, die noch unter Adenauer gang und gäbe war und so weit als möglich ohne Beteiligung der Öffentlichkeit stattfand, ist seither unmöglich - im Guten wie im Schlechten.
Wesentlich umstrittener ist die Demokratisierung damals wie heute in der Wirtschaft. Zwar konnten die Sozialdemokraten die Präsenz der Gewerkschaften in den Betrieben endlich legalisieren und damit einen fast 100jährigen Arbeitskampf beenden. Auch wurde die Rolle der Betriebs- und Aufsichtsräte stark ausgebaut. Aber die Demokratisierung der Wirtschaft erreichte nie auch nur annähernd das Ausmaß, das die Visionäre der SPD sich wünschten. Wir gehen auf diese Thematik in der Sektion für die nicht gegangenen Wege noch einmal ein.
Bereits im Adenauer-Teil unserer Betrachtung habe ich die Bundeswehrreformen angesprochen; sie sollen hier noch einmal gebührend Erwähnung finden. Helmut Schmidt konnte als Verteidigungsminister einen großen Anteil an diesen Reformen für sich verbuchen. Mit Sachverstand auf der einen und genügend Distanz zur Armee auf der anderen Seite (bei der er dank seiner Wehrmachtskarriere einen Vertrauensvorschuss genoss, den der Exilant Brandt nie haben konnte) brach er den alten Wehrmachtsgeist vollständig. Diese Reformen wurden ab 1972 unter seinem Nachfolger Leber leider teilweise wieder zurückgedreht, so dass die CDU-Verteidigungsminister der 1980er Jahre das ganze Thema noch einmal von vorne aufnehmen und, unterstützt durch die Demographie, dann endgültig lösen konnten.
Weitere Öffnungsmaßnahmen betrafen die Herabsenkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre, ebenso die des passiven Wahlalters von 25 auf 21 und später ebenfalls auf 18. Die Rechte von Kindern und Jugendlichen wurden stark ausgebaut, die der Eltern eingeschränkt. Statt der elterlichen Gewalt stand nach einer grundlegenden Reform des Familienrechts nun die elterliche Sorge im Vordergrund, wenngleich es noch einmal drei Dekaden dauern sollte, ehe Gewalt gegen Kinder unter Kanzler Schröder endgültig verboten werden sollte.
Zentrale Fortschritte wurden auch im Hinblick auf die Emanzipation der Frau gemacht. So wurde das Eherecht entscheidend verändert, das dem Mann viele Gewaltrechte gegenüber der Frau eingeräumt hatte. Das Scheidungsrecht wurde modernisiert, indem man das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzte und damit Millionen Frauen den Ausweg aus unglücklichen Ehen ermöglichte, ohne sie dem Ruin preiszugeben. Beschränkungen für die Tätigkeit von Frauen wurden abgeschafft, Frauengefördert. Zuletzt wurde mit der Legalisierung der Abtreibung eine feministische Kernforderung erfüllt.
Zentrale Weichenstellungen erfolgten auch in der Sozialpolitik. Seit Adenauer (und nie wieder seitdem) wurde der Sozialstaat nicht mehr so stark ausgebaut wie unter Brandt. Die Regierung beseitigte eine Leerstelle im Generationenvertrag, indem mit dem Kindergeld wenigstens ein kleiner Teil der Bürde der Kindeserziehung aufgefangen wurde. Zudem wurde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (übrigens im Einvernehmen mit der Wirtschaft und Versicherungsindustrie) reformiert, ein Programm, das so erfolgreich war, dass es bis heute weitgehend erhalten blieb und in Deutschland völlig unangefochten ist.
Die größte und sicherlich umstrittenste dieser Reformen aber war die Rentenreform 1972. Angesichts der anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg überboten sich die CDU und die SPD gegenseitig mit Forderungen nach einem Ausbau der Rente. Die SPD errang schließlich einen Pyrrhus-Sieg, indem sie zwar die größten Angebote machte (und einen triumphierenden Rundbrief an die schwäbischen Rentner schreiben konnte), die Landtagswahl aber trotzdem verlor und den Staatshaushalt deutlich belastete, weswegen ein Gutteil des 1972 festgeschriebenen Rentenniveaus inzwischen wieder passé ist - und in einer schreienden generationellen Ungerechtigkeit nur von einer eingeschränkten Alterskohorte genossen, aber vor allem von der nachfolgenden bezahlt wird, ein Problem, an dem sich bis heute noch jede Partei die Zähne ausgebissen hat. In einer besonderen Ironie der Geschichte waren es die Sozialdemokraten, die die größte Rentenkürzung der Geschichte 2007 zu verantworten hatten - und dafür, wie es aussieht, endgültig jegliche Machtperspektive verloren.
Eine große, wenngleich völlig unbeabsichtigte Weichenstellung war eine Folge der Entscheidung der Adenauer-Regierung, den Arbeitskräftemangel durch die Anwerbung von Gastarbeitern zu beheben. Während die Arbeitsmigration aus Südeuropa weitgehend folgenlos blieb - die meisten Italiener, Spanier, Portugiesen und Griechen waren bis zu Beginn der 1970er Jahre verschwunden - sollte die Umstellung der Anwerbung auf Türken ab 1961 große Folgeeffekte haben. Mit dem ersten Ölpreisschock verschwand der Mangel an ungelernten Gastarbeitern endgültig. Um diesen zu beheben, entschied sich die Regierung Brandt 1973 für einen Anwerbestopp. Dieser hatte den gegenteiligen Effekt des Gewünschten: angesichts unklarer Rückkehraussichten blieben die Türken im Land, holten ihre Familien nach und begannen, von Arbeitsmigranten zu echten Migranten zu werden. Mit dieser Herausforderung nicht umzugehen wird einer der größten nicht gegangenen Wege unter Helmut Schmidt und Helmut Kohl sein.
Eine letzte, bescheidene Weichenstellung erfolgte durch die zarten Anfänge einer Umweltpolitik. Brandt war einer der ersten deutschen Politiker, die sich für eine saubere Umwelt stark machten. Wir reden von einer Zeit, in der der Rhein klinisch tot und die Luft im Ruhrgebiet so schlecht war, dass man jeden Tag zweimal Fenster putzen und trotzdem nicht hinterherkommen konnte. Unter dem Schlagwort "Blauer Himmel über der Ruhr" begann die Generationenaufgabe, die Hinterlassenschaften der Industrialisierung zu beseitigen und gleichzeitig den Strukturwandel einzuleiten - eine Generationenaufgabe, die bis heute nicht abgeschlossen ist und die von seinem Nachfolger Helmut Schmidt bedauerlicherweise in falsch verstandenem Pragmatismus praktisch abgebrochen wurde.
Kommen wir damit zu den Themen, die eher aus der liberalen Herzkammer stammen. Die Brandt-Ära steht im Zeichen einer weitgehenden Liberalisierung. So wurde die in der Großen Koalition bereits begonnene Strafrechtsreform weitergetrieben und zu Ende gebracht, die das komplette System der Strafverfolgung von seinem reaktionären Ballast befreite. Von der Abschaffung des Zuchthauses im Kleinen bis zur Abkehr vom Sühnegedanken im Großen wurde alles vom Kopf auf die Füße gestellt. Kaum ein Stein blieb auf dem anderen. Die FDP verdiente sich hier als Bürgerrechtspartei bleibende Meriten und schaffte im gesamten rechtlichen Bereich jenes moderne Deutschland, das die SPD im wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereich schuf - und in dem wir heute noch leben.
So finden wir in dieser Zeit etwa die Einführung des Prinzips, dass Resozialisation der Hauptgedanke der Strafrechtsbehörden ist. Es geht nicht um das Bestrafen und Wegsperren, sondern um das Beseitigen der Gründe für Kriminalität - ein heute allgemein akzeptierter Gedanke (wenngleich nicht an deutschen Stammtischen, an denen besonders konservative oder reaktionäre Parteien und Politiker gerne mit Forderungen nach harten Strafen reüssieren).
Das Demonstrationsrecht, das unter den vorangegangenen Kanzlern noch ein Schattendasein fristete und jederzeit unter Polizeiknüppeln fallen konnte, wurde deutlich gestärkt (erneut gegen erbitterten Widerstand der CDU). Veraltete Strafbestände wurden abgeschafft; so fiel der Kuppelei-Paragraph ebenso wie die Strafbarkeit von Homosexualität.
Leider, und auch das muss ausgesprochen werden, fiel auch ein dunkles Erbe in diese Zeit: der so genannte Radikalenerlass. Um gegen die Bedrohung vor allem durch linksextremistische K-Gruppen vorzugehen, die in dieser Zeit wie Pilze aus dem Boden schossen, wurden Gesinnungsprüfungen eingesetzt. Diese waren verfassungsrechtlich fragwürdig, wertetechnisch inakzeptabel und wurden später von Brandt als sein "größter Fehler" gesehen, unter Schmidt bereits wieder entschärft, finden sich aber bis heute in den Gesetzesbüchern.

Außenpolitik

Am berühmtesten ist Willy Brandts Kanzlerschaft fraglos für seine Ostpolitik. In den 1960er Jahren war zunehmend deutlich geworden, dass Adenauers harte Abgrenzungspolitik nach Osten (die in der Hallsteindoktrin institutionalisiert worden war) nicht mehr länger aufrechtzuerhalten war. Weder erfüllte sie ihr Ziel (die DDR wurde zwar delegitimiert und destabilisiert, aber brach offenkundig nicht darüber zusammen), noch standen die Erträge in einem vernünftigen Verhältnis zu den Kosten.
Ganz abwenden wollten sich Genscher und Brandt aber von diesen Gedanken nicht; eine formelle Anerkennung blieb der DDR auch in der sozialliberalen Ära versagt. Stattdessen folgten die Grundlagenverträge. Zuerst einigte man sich mit der Sowjetunion - eine unverzichtbare Vorbedingung jeder Aufnahme von Verhandlungen mit ihren Satellitenstaaten, die ja außenpolitisch nicht eben souverän waren -, dann mit Polen und der Tschechoslowakei. Erst am Ende fand eine Einigung mit der DDR statt.
In allen Fällen bestanden die Grundbausteine dieser Verträge in gegenseitigem Gewaltverzicht und Anerkennung der Nachkriegsgrenzen. Aus heutiger Perspektive ist die Heftigkeit der Auseinandersetzungen um diese Frage völlig unverständlich, aber viele Abgeordnete betrachteten das als glatten Landesverrat. Die Stimmung war hoch aggressiv, und die Regierung Brandt zerbrach beinahe über der Frage. Am Ende aber hatten sowohl SPD als auch FDP ihre nationalistischsten Abgeordneten an die CDU verloren - wo sie im Gefolge der Wahlniederlage 1972 rapide an Einfluss verloren.
Neben der Anerkennung der Grenzen nahm die BRD auch Handelsbeziehungen zu den Ostblockstaaten auf, die wirtschaftlich deutlich relevanter waren, als beide Seiten sich dies damals wie heute eingestehen wollten. Im Gegenzug verpflichtete sich die DDR auf die so genannten "menschlichen Erleichterungen". Letztlich lief es darauf hinaus, dass die BRD die DDR dafür bezahlte, ihr Volk nicht ganz so sehr zu misshandeln wie bisher.
Diese politische Entscheidung sollte Langzeitfolgen für die Legitimation des DDR-Regimes haben. Die neue Transparenz, die durch die Öffnung zum Westen zwangsläufig und nicht zu vermeiden war, führte den maroden Status der DDR und den Realitätsverlust ihrer Eliten vor allem ab den 1980er Jahren allen deutlich vor Augen. Andererseits aber stabilisierte die Ostpolitik die DDR auch deutlich. Sie blieb bis 1989 Regierungspolitik der BRD; so wie die SPD die Westbindung akzeptiert hatte, so akzeptierte die CDU die Ostpolitik.
Dies führte dazu, dass unter Kohl eine Franz Josef Strauß, Kommunistenfresser der ersten Stunde, die DDR mehrfach mit Milliardenspritzen vor dem Bankrott bewahrte. 1989 war die Ostpolitik in allen deutschen Parteien so sehr verankert, dass sie zu einer regelrechten Identifizierung mit der DDR-Regierung geführt hatte - und zu einer distanzierten, abweisenden Behandlung der DDR-Opposition, was sich im Wiedervereinigungsprozess für diese als fatal erweisen sollte. Doch dazu mehr, wenn wir zu Kohl kommen.
Als letztes möchte ich noch den Kniefall in Warschau erwähnen. Brandts spontane Geste vor dem Denkmal der gefallenen Juden gab der unter Adenauer begonnenen wirtschaftlichen und politischen Wiedergutmachungspolitik gegenüber den Opfern des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs endlich auch eine moralische Komponente, ein offizielles Schuldeingeständnis, das weit über Geldzahlungen hinausreichte. Nicht umsonst wurde die Geste kontrovers diskutiert (BILD-Schlagzeile: "Durfte Brandt knien?"). Man befürchtete Reparationsforderungen, die aus dieser Anerkennung folgen würden. Dazu kam es nie. Aber Brandts Geste bereitete mit den Weg für den generellen Wandel des deutschen Geschichtsbilds und war ein Beweis politischen Muts und persönlicher Integrität.

Nicht gegangene Wege

Ein kontrafaktisches Szenario höchster Güte betrifft die Demokratisierung der Betriebe - in beide Richtungen. Der Kompromiss, den die sozialliberale Koalition fällte, befriedigte keine der beiden Parteien. Teile der SPD hätte gerne wesentlich weitreichendere Mitbestimmung gehabt, als ersten Baustein eines generellen Umbau des Wirtschaftssystems. Die FDP dagegen hätte es bevorzug, überhaupt keine Mitspracherechte einzuräumen und die Arbeitnehmer stattdessen über die Gewährung von Beteiligungen zu stakeholdern in ihren Betrieben zu machen.
Beide Alternativszenarien beschäftigen seither die Geister von liberalen wie linken Kritikern der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung. Es ist schwer zu sagen, wie sich die Republik entwickelt hätte, wenn diese Vorstellungen hätten umgesetzt werden können. Eine gesellschaftliche Mehrheit findet sich für beide Projekte eher nicht, weswegen sie zwangsläufig theoretisch bleiben müssen.
Ein weiterer Aspekt betrifft den Ausbau der Gesamtschulen, ein ständiges sozialdemokratisches Herzensprojekt. Im Zuge der Bildungsexpansion hoffte man, das deutsche Schulsystem aus seiner klassischen Dreigliedrigkeit lösen zu können und stattdessen die Gesamtschule etablieren und in ihrem Rahmen mehr Gleichheit schaffen zu können. Allein, das Unternehmen scheiterte auf mehreren Ebenen, dem Bildungsföderalismus an erster Stelle. Die SPD versuchte seither immer wieder, auf Länderebene Gesamtschulen zu etablieren, aber das Projekt hat nie wirklich Breitenwirkung erzielt und bleibt ein ungeliebtes Kind.
Es ist fraglich, ob eine Umgestaltung des öffentlichen Schulwesens je so möglich war. Wenn, dann hätte die Frühzeit der BRD die Möglichkeit geboten, als die damalige Besatzungsmacht USA darauf drängte und die deutschen Stellen mit aller Macht gegenhielten. Wenn selbst die siegreichen USA einem Rumpfstaat vor 1949 solche Reformen nicht aufoktroyieren konnten, ist es vermessen anzunehmen, eine Koalition, deren kleinerer Partner eh kein Interesse daran hatte, hätte es tun können. Aber es ist ein klarer nicht genommener Weg. Stattdessen öffnete sich das dreigliedrige Schulsystem in den späten 1990er und 2000er Jahren deutlich, so dass wir das Problem mittlerweile auf anderem Weg gelöst haben. Die Gesamtschulen wirken daher mehr und mehr wie ein Relikt vergangener Tage.
Zuletzt stellt uns die 1. Ölkrise von 1973 vor ein interessantes kontrafaktisches Szenario. Ich will nicht annehmen, dass sie nicht stattgefunden hätte - das war völlig außer Kontrolle aller westlichen Regierungen - sondern dass in Reaktion darauf wesentlich größere Schritte zu einer Dekarbonisierung der Republik genommen worden wären. In der Realität führte der Ölpreisschock zu einer stärkeren Konzentration auf Kernenergie. Aber grundsätzlich wäre es vorstellbar, dass man sich damals bereits für einen Ausbau der erneuerbaren Energiequellen entschieden hätte. Wie realistisch das ist, sei dahingestellt. In der damaligen SPD ist die Idee keinesfalls mehrheitsfähig, in FDP und CDU gleich dreimal nicht. Aber es waren Weichenstellungen, die bis zum Atomausstiegsausstiegausstieg unter Angela Merkel die Energiepolitik der BRD bestimmten.

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