Das große Füttern (Teil 2)

Das große Füttern (Teil 1)

Nun geht es tatsächlich los und ich führe den mit Brei beladenen Löffel an den Mund der Tochter, den sie bereitwillig und neugierig öffnet, um sich die pürierte Frühkarotte einzuverleiben. Schließe aus ihren weit aufgerissenen Augen auf erhöhte Aktivitäten der Synapsen im Großhirn, um die neue geschmackliche Erfahrung einzuordnen. Anscheinend kommt das Töchterlein zu dem Schluss, das es sich um ein nur mäßig eindrucksvolles Ereignis handelt, das nicht unbedingt einer Wiederholung bedarf. Dementsprechend weigert sie sich, den Mund für den nächsten Löffel zu öffnen.

Entblöde mich daraufhin nicht, den Löffel mit Propellergeräuschen von höchster Authentizität vor ihrem Gesicht fliegen zu lassen. Die Tochter goutiert dieses erlebnisgastronomische Spektakel jedoch nicht und schlägt stattdessen mit der Präzision eines Schweizer Uhrmachers den Löffel aus meiner Hand. Verschiebe meine persönliche Schamgrenze in ungeahnte Höhen und fange an, etwas von einem Löffelchen für Mama und einem für Papa zu faseln. Die Tochter schaut mich teilnahmslos an und macht keinerlei Anstalten den Mund zu öffnen.

Erinnere mich daran, dass dieses unwürdige Schauspiel von der Videokamera festgehalten wird und beschließe, dass dieser erste Fütterungsversuch doch nicht zu den unbedingt zu dokumentierenden Ereignissen im Leben meiner Tochter zählt. Schalte die Kamera ab.

Mache im Laufe der Fütterung die erstaunlichen Erfahrung, dass das gleiche Kind, das sonst auch nach dem achten Versuch kaum in der Lage ist, einen Gegenstand zu ergreifen, auf einmal mit einer für das menschliche Auge kaum wahrnehmbaren Geschwindigkeit die Schale mit dem Brei erfassen kann und diese fest umklammert hält wie ein Alkoholiker die Flasche Korn. Die Tochter lässt die Schale erst los, als sie bemerkt, dass der Brei warm ist. Unverzüglich stimmt sie ein anklagendes Weinen an, mit dem es mir zu verstehen gibt, dass ich meine Aufsichtspflicht aufs Gröbste verletzt habe. Danach frönt das Töchterlein wieder seiner haptischen Beziehung zu dem Brei und langt aufgrund ihrer nur äußerst flach ansteigenden Lernkurve wieder in den Brei. Es folgt abermals ein Protestgeschrei, das befürchten lässt, die Nachbarn könnten das Jugendamt verständigen.

Möchte die Tochter auf andere Gedanken bringen und gebe ihr zur Ablenkung einen eigenen Löffel. Ein spektakulärer Fehler, wie sich herausstellen soll. Die Tochter legt feinmotorische Fähigkeiten an den Tag, wie ich sie vorher allenfalls bei chinesischen Straßenkünstlern gesehen habe, die in den 90er Jahren die Fußgängerzonen deutscher Kleinstädte bevölkerten und Namen auf Reiskörner schrieben. Zielsicher wie ein olympischer Sportschütze haut sie mit dem Löffel in die Breischale und erfreut sich an den Karottenspritzern auf dem Tisch wie ein Kleinkind, das Karottenbrei auf einem Tisch verspritzt.

Angespornt durch diese ästhetischen Effekte lässt es den Löffel einem Fallbeil gleich wieder in die Breischale sausen und produziert diesmal Kleckse an der Wand, wie sie Jackson Pollock nicht formvollendeter hätte kreieren können. Versuche mir das damit schönzureden, dass die Wand ohnehin mal wieder gestrichen werden müsste. Breche dennoch das Löffelexperiment unter lautstarkem Protest der Tochter ab.

Stelle gegen Ende des Fütterungsprozesses fest, dass zwar die Kindertextilien durch das Lätzchen ausreichend geschützt wurden, ich aber gleichzeitig vergessen habe, mich nach der Arbeit meines weißen Oberhemdes zu entledigen. Ein Versäumnis, das von einer Weltfremdheit Kaspar Hauserschen Ausmaßes zeugt. Das Hemd sieht nach den Löffeleskapaden des Töchterleins aus als sei es von Ed Hardy designt. Ziehe dann den Pullover an, den ich seit über zehn Jahren zu Maler- und Renovierungsarbeiten trage. Diesen kann ich praktischerweise gleich anlassen, um nach dem Essen die Wände zu weißen.

Nach mehr als 90 Minuten ist das erste Füttern vorbei und alle Beteiligten sind geschafft, aber zufrieden. Die Tochter, die mehr Essen im Gesicht, auf dem Tisch und an den Wänden verteilt hat, als in seinen Mund gelangt sein kann, freut sich über seine künstlerische Kreativerfahrung. Die Eltern dagegen sind glücklich, dass sie den sich abzeichnenden Nervenzusammenbruch doch noch abwenden konnten und das nächste Füttern erst in 24 Stunden wieder ansteht.


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