Das große Füttern

Bereiten uns auf ein Ereignis von höchster gesellschaftlicher Bedeutung vor, das allenfalls mit Hochzeiten europäischer Königshäuser vergleichbar ist: das erste Füttern unserer Tochter mit fester Nahrung. Stehe daher im Drogeriemarkt vor gefühlten 28 Regalmetern mit Babybreien in jeglichen vorstellbaren und vor allem unvorstellbaren Geschmacksrichtungen: von Mininudeln mit Seefisch in Rahmbroccoli über Baby-Paella bis hin zu Ratatouille mit Pasta und Lamm. Erstaunlicherweise haben fast alle Breie die gleiche wenig appetitanregende gräuliche Farbe. Rufen bei mir Assoziationen mit Spachtel- und Fugenmasse hervor.

Suche erfolglos nach einem Gläschen mit Pizza Funghi Prosciutto. Inspiziere stattdessen ein Gläschen mit Kürbis-Kartoffeln mit Erbsen und Fenchel. Ein Menü, das die Frage aufwirft, warum ich meinem Kind ein Essen in pürierter Form zumuten sollte, das schon im festen Aggregatzustand eine Mahlzeit aus der kulinarischen Vorhölle darstellt. Wäre der Antichrist Koch, würde er ausschließlich Essen mit Fenchel zubereiten.

Entscheide mich schließlich für einen Frühkarotte-Brei, der zur Abwechslung durch eine ansprechende orangene Farbe besticht und vom Hersteller sehr überzeugend als besonders bekömmlich für des Babys erste Nahrung angepriesen wird.

Erhitze zuhause vorschriftsgemäß den Brei im schonenden Wasserbad und probiere ihn, um die Temperatur zu überprüfen. Den Brei als geschmacklich neutral zu bezeichnen, würde die Bedeutung des Begriffs Euphemismus stark strapazieren und eine fortgeschrittene Verkümmerung der Geschmacksknospen auf der Zunge des Probierenden vermuten lassen.

Kann mir schwerlich vorstellen, dass das Töchterlein über diese wässrige und allenfalls farblich an Karotte erinnernde Mahlzeit in Begeisterungsstürme wie Alfred Biolek ausbricht, wenn er in seiner TV-Küche die kulinarischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit seiner prominenten Gäste probieren muss. Erinnere mich an eine Folge mit Dirk Bach, der eine Dose Feuerzauber Texas erwärmte und darin ein ganzes Stück Aldi-Gouda schmolz. Alfred Biolek schaute dabei erfreut wie ein im Mittelalter zum Tode Verurteilter auf dem Weg zum Schafott und würgte unter Aufbringung einer geradezu übermenschlichen Selbstbeherrschung die zähe klebrige Masse hinunter. Danach brach er in sein charakteristisches affirmativ-räusperndes Grunzen aus, welches in diesem Fall wohl eher ein unterdrückter Brechreiz war.

Denke aber, dass das Töchterlein wahrscheinlich doch mit seiner magenschonenden Frühkarotte zufrieden sein wird. Das liegt vor allem daran, dass das gute Kind ja noch nie etwas anderes als Muttermilch zu sich genommen hat. Und Köstlichkeiten wie Schokopudding mit Sahne oder Käsekuchen kennt sie auch noch nicht.

Die Freundin zeigt sich derweil etwas besorgt, ob das Kind im Zuge des Abstillens auch genügend essen wird. Beruhige sie mit Hinweis auf meinen alten Kinderarzt, der immer sagte, dass ein Kind nicht so schnell verhungere. Wenn es an einem Tag nichts isst, wird es schon am nächsten Tag etwas essen und spätestens am dritten Tag wird es so hungrig sein, dass es Nahrung aufnehmen wird. Er brachte diese Theorie auch immer mit größtmöglicher Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit rüber, da sein Body-Mass-Index im nicht mehr messbaren Bereich lag und er mit seinem buschigen Vollbart wie der große übergewichtige Bruder von Bud Spencer aussah.

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Schreiten nun zur Tat, indem wir das Kind in den Hochstuhl verfrachten und ihm ein Lätzchen umbinden, auf das der sinnfreie Spruch „Meine Mami wäscht gerne“ gedruckt ist. Machen auch noch die Videokamera startklar, die meine Eltern uns zur Geburt der Tochter schenkten, damit wir wichtige Ereignisse wie das heutige festhalten, was später dann doch niemand sehen will. In diesem Sinne hatten meine Eltern bei einem USA-Familienurlaub Mitte der 80er Jahre auf einer Wohnmobil-Tour stundenlang die Route 66 abgefilmt. Später stellten sie dann erstaunt fest, dass sich das Interesse und der Enthusiasmus von Verwandten, Freunden und Bekannten an diesem Road Movie von cineastisch fragwürdiger Qualität in Grenzen hielt (Sollten meine Eltern dies lesen, sei ihnen versichert, dass das Anschauen dieses Urlaubsvideos selbstverständlich immer zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen zählen wird.).

Nun geht es tatsächlich mit dem Füttern los. Führe den mit Brei beladenen Löffel an den Mund der Tochter, den sie bereitwillig und neugierig öffnet, um sich die pürierte Frühkarotte einzuverleiben. Schließe aus ihren weit aufgerissenen Augen auf erhöhte Aktivitäten der Synapsen im Großhirn zur Einordnung dieser neuen geschmacklichen Erfahrung. Anscheinend kommt das Töchterlein zu dem Schluss, dass es sich um ein nur mäßig eindrucksvolles Ereignis handelt, das nicht unbedingt einer Wiederholung bedarf. Dementsprechend weigert sie sich, den Mund für den nächsten Löffel zu öffnen.

Entblöde mich daraufhin nicht, den Löffel mit Propellergeräuschen von höchster Authentizität vor ihrem Gesicht fliegen zu lassen. Die Tochter goutiert dieses erlebnisgastronomische Spektakel jedoch nicht und schlägt stattdessen mit der Präzision eines Schweizer Uhrmachers den Löffel aus meiner Hand. Verschiebe meine persönliche Schamgrenze in ungeahnte Höhen und fange an, etwas von einem Löffelchen für Mama und einem für Papa zu faseln. Die Tochter schaut mich teilnahmslos an und macht keinerlei Anstalten den Mund aufzumachen. Mein letztes bisschen Restwürde selbst mit Füßen tretend täusche ich vor, den Brei selbst zu probieren und stoße in Jubelstürme aus, als hätte Paul Bocuse persönlich den Brei zubereitet.

Erinnere mich daran, dass dieses unwürdige Schauspiel von der Videokamera festgehalten wird. Beschließe, dass dieser erste Fütterungsversuch doch nicht zu den unbedingt zu dokumentierenden Ereignissen im Leben meiner Tochter zählt. Schalte die Kamera ab.

Mache im Laufe der weiteren Fütterung die erstaunlichen Erfahrung, dass das gleiche Kind, das sonst auch nach dem achten Versuch kaum in der Lage ist, einen Gegenstand zu ergreifen, auf einmal mit einer für das menschliche Auge kaum wahrnehmbaren Geschwindigkeit die Schale mit dem Brei erfassen kann und diese fest umklammert hält wie ein Alkoholiker die Flasche Korn. Die Tochter lässt die Schale erst los, als sie bemerkt, dass der Brei warm ist. Unverzüglich stimmt sie ein anklagendes Weinen an, mit dem sie mir zu verstehen gibt, dass ich meine Aufsichtspflicht aufs Gröbste verletzt habe.

Danach frönt das Töchterlein wieder seiner haptischen Beziehung zu dem Brei und langt aufgrund ihrer nur äußerst flach ansteigenden Lernkurve wieder in die Schale. Es folgt abermals ein Protestgeschrei, mit dem sie einen vorderen Platz eines Chewbacca-Imitationswettbewerbs belegen könnte. Befürchte derweil, die Nachbarn könnten das Jugendamt oder den Tierschutzbund verständigen.

Möchte die Tochter auf andere Gedanken bringen und gebe ihr zur Ablenkung einen eigenen Löffel. Ein spektakulärer Fehler, wie sich herausstellen soll. Die Tochter legt feinmotorische Fähigkeiten an den Tag, wie ich sie vorher allenfalls bei chinesischen Straßenkünstlern gesehen habe, die in den 90er Jahren die Fußgängerzonen deutscher Kleinstädte bevölkerten und Namen auf Reiskörner schrieben. Zielsicher wie ein olympischer Sportschütze haut sie mit dem Löffel in die Breischale und erfreut sich an den Karottenspritzern auf dem Tisch wie ein Kleinkind, das Karottenbrei auf einem Tisch verspritzt.

Angespornt durch diese ästhetischen Effekte lässt es den Löffel einem Fallbeil gleich erneut in die Breischale sausen und produziert diesmal Kleckse an der Wand, wie sie Jackson Pollock nicht formvollendeter hätte kreieren können. Rede mir dies damit schön, dass die Wand ohnehin mal wieder gestrichen werden müsste. Breche dennoch das Löffelexperiment unter lautstarkem Protest der Tochter ab.

Stelle gegen Ende des Fütterungsprozesses fest, dass zwar die Kindertextilien durch das Lätzchen ausreichend geschützt wurden, ich aber gleichzeitig vergessen habe, mich nach der Arbeit meines weißen Oberhemdes zu entledigen. Ein Versäumnis, das von einer Weltfremdheit Kaspar Hauserschen Ausmaßes zeugt. Das Hemd sieht nach den Löffeleskapaden des Töchterleins aus als sei es von Ed Hardy designt. Ziehe daher den Pullover an, den ich seit über zehn Jahren zu – zugegebenermaßen eher sporadischen – Maler- und Renovierungsarbeiten trage. Diesen kann ich praktischerweise gleich anlassen, um nach dem Essen die Wände zu weißen.

Nach mehr als 90 Minuten ist das erste Füttern vorbei und alle Beteiligten sind geschafft, aber zufrieden. Die Tochter, die mehr Essen im Gesicht, auf dem Tisch und an den Wänden verteilt hat, als in seinen Mund gelangt sein kann, freut sich über seine ersten künstlerische Kreativerfahrung. Wir sind dagegen glücklich, den sich abzeichnenden Nervenzusammenbruch noch einmal abgewendet zu haben.

Stelle dann mit Schrecken fest, dass das nächste Füttern bereits in 24 Stunden wieder ansteht. Mache mich daher auf den Weg zum Baumarkt, um Folie zum Abkleben der Wände zu kaufen.


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