Das Grauen des Schwarzfahrens

Ich fahre nie schwarz, wirklich. Aber jetzt, jetzt musste es sein. Mein Kleingeld reichte nicht mehr für eine Fahrkarte und das Wechselgeld für den ganz großen Schein, den mir der Bankautomat ausgespuckt hatte, in 2-€-Münzen in mein Portemonaie zu stopfen konnte ja nicht wirklich eine Alternative sein. Natürlich hätte ich einen der anderen Wartenden bitte können, mir meinen großen Schein in kleinere zu tauschen, aber wie das Leben so spielt kam just in diesem Augenblick der Erkenntnis der Bus. Meine letzte Chance (denn ich hatte es selbstverständlich eilig wie jeder anständige Mensch heutzutage) war der Fahrkartenautomat im Bus, aber der war – verflixt nochmal! – vom Erdboden verschluckt worden.

Es gab also nur eine Lösung: Ich musste es schaffen, ganze 16 Minuten schwarz zu fahren. 16 Minuten können unglaublich lang sein, wenn man sie mal kurz bräuchte und vergehen wann anders so schnell, wo man die Zeit doch nutzen wollte – keine 16 Minuten sind so gut erzogen, dass sie sich um die Bedürfnisse der Verbraucher kümmern. Ein Jammer.

Nun hieß es also, sich gut vorzubereiten. Sollte ich mich schlafend stellen? Bei manchen Kontrolleuren soll das ja funktionieren, aber mittlerweile ist die Technik doch recht bekannt. Ich hatte mich versuchsweise mal trotz Fahrkarte schlafend gestellt, damals wurde ich geweckt. Mal abgesehen von den unzähligen Malen als ich tatsächlich tief und fest eingeschlafen war und womöglich am Ende der Busfahrt höflich vom Busfahrer darauf hingewiesen wurde, dass er jetzt ganz gerne Feierabend machen würde. Also heute nicht schlafen.

Was dann? Flüchten, sobald verdächtig aussehende Mitfahrer einsteigen, die eventuell mit klitzekleiner Wahrscheinlichkeit vielleicht Kontrolleure sein könnten? 16 Minuten lang an der Tür stehen ist doch etwas zu sportlich für mich also suche ich mir einen Sitzplatz in der Nähe. Gute Wahl, denke ich mir, bis sich eine Dame neben mich setzt, mir also den Fluchtweg versperrt, und mir auffällt, dass die Reihe gegenüber aus Einsitzern besteht. Den Platz wechseln? Nein, das wäre nun wirklich zu auffällig.

Ein paar Haltestellen weiter findet ein Fahrerwechsel statt. Ich könnte schnell rausspringen und meinen großen Schein doch noch zu 2-€-Münzen machen lassen, denn die Entscheidung von vorhin habe ich längst tief bereut. Aber unsere Verkehrsbetriebe gönnen uns nicht den Luxus eines Fahrkartenautomaten an jeder Haltestelle. Schade eigentlich.

Diese Tatsache lässt mich vermuten, dass man eventuell beim Busfahrer auch Fahrkarten kaufen kann. Bislang dachte ich, das ginge nur in Überlandbussen, aber in Ermangelung anderer Möglichkeiten wäre das durchaus denkbar. Und womöglich könnte der mir auch auf meinen großen Schein mit kleineren Scheinen rausgeben. Welch Innovation. Aber wie peinlich jetzt aufzustehen und eine Fahrkarte zu kaufen, immerhin liegt die Hälfte der 16 Minuten schon hinter mir. Ich nehme mir vor, in Zukunft meine Selbstsicherheit zu trainieren, aber jetzt nicht.

Woran erkennt man eigentlich Kontrolleure? Sie sind mindestens zu zweit, glaube ich jedenfalls, denn ich bin oft mehrmals innerhalb weniger Minuten kontrolliert worden, weil der Herr mal wieder nicht mitbekommen hatten, wo die Kollegin schon war. Oder andersrum, keine Gendervorurteile bitte.

Und sonst? Verwegener Blick? Dienstuniform oder doch eher eine abgefrackte Mafiajacke? Ich muss in Zukunft deutlich besser beobachten, Sherlock Holmes würde sich schämen. Aber der würde wohl auch nicht schwarzfahren…

Ich mach das ja schließlich auch nie. Ich bin eine von denen, die die These vertreten, dass die Fahrpreise geringer wären, wenn es nicht so viele Schwarzfahrer gäbe. Allerdings muss ich zugeben, dass es evt. auch weniger Schwarzfahrer gäbe, wenn man weniger kontrolliert würde. Wem man Vertrauen zeigt, enttäuscht es auch seltener. Aber natürlich gibt es auch dann noch schwarze Schafe.

Mittlerweile glühe ich innerlich. Mein Herz pocht so heftig gegen meine Brust, dass es eigentlich jeder sehen müsste. Ich bin der schlechteste Schwarzfahrer der Welt. Eine Tatsache, auf die ich zu jeder anderen Zeit stolz wäre, aber jetzt sehne ich mich nach professioneller verwegener Gelassenheit.

Der Mann vor mir steht auf und dreht sich um. Mir gefriert das Blut in den Adern und entsetzt schaue ich ihn an. Er erwidert meinen Blick verwundert, geht zur Tür und steigt aus. Seltsam, dass niemandem diese Szene aufgefallen ist. Oder beobachtet mich der Busfahrer doch im Rückspiegel?

An der Bibliothek steigen massenhaft Studenten ein. Ich verliere den Überblick. Waren Kontrolleure dabei? Herrjemine, das waren einfach zuviele. Andererseits würde ich auf die Art vielleicht früher entkommen, wenn ich von weit hinten schon das “Die Fahrkarten bitte!” höre. Steigen die eigentlich vorne oder hinten ein?

Die letzte Haltestelle bevor ich aussteigen muss. Die Türen schließen und zum ersten Mal wage ich zaghaft aufzuatmen: Kein Kontrolleur kann jetzt noch zusteigen. Da öffnet der Busfahrer die Türen nochmal für einige Zuspätkommer und ich sinke in meinem Sitz zusammen. Innerlich bete, bettle und flehe ich den Busfahrer an: Fahr doch, fahr doch bitteeee!

Wir sind fast da, aber eine Ampel kostet mich den letzten Nerv. Vielleicht wacht just in diesem Moment ein übermüdeter Kontrolleur auf. Vielleicht ist es die Frau neben mir. Vielleicht ahnt gerade jetzt der Busfahrer, dass dieses zusammengesunkene hochrote Würstchen da hinten keinen Fahrschein hat und bittet mich nach vorn zu kommen. Ich würde sofort alle 2-€-Stücke dieser Welt in meinem Portemonaie unterbringen, wenn ich dafür nur eine Fahrkarte hätte.

Endlich. Ich darf aussteigen. Der Schweiß läuft als stünde ich in strömendem Regen. Ich komme mir vor als hätte ich einen Horrorfilm in Überlänge und 3D gesehen.

Auf dem Rückweg meide ich den Bus, denn ich habe wieder keine Lust auf zentnerweise Münzen. Die eine Stunde Spaziergang um kurz nach Mitternacht vergeht wie im Flug.



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