Anders als 2016 hat die Partei selbst es minutiös vermieden, sich auf einen Favoriten oder eine Favoritin festzulegen. Stattdessen wurden die Regeln, unter Mitarbeit des Überraschungsphänomens Bernie Sanders, auf maximale Transparenz und Offenheit angelegt. Das Debakel von Iowa ist auch eine Konsequenz dieser Entscheidungen, aber es führte auch dazu, dass mehrere KandidatInnen eine zumindest ordentliche Chance bis in die ersten Vorwahlen mitbrachte.
Der Favorit bleibt seit Monaten, ohne besondere Verschiebungen, Joe Biden. Obamas ehemaliger Vizepräsident baut auf die Loyalität großer Teile der Obama-Koalition. Sein größter Herausforderer ist Bernie Sanders, der versucht, seine Stärke von 2016 zu wiederholen und eine grassroots revolution gegen das moderate Establishment zu starten. Elizabeth Warren versucht mittlerweile, sich als Kompromisskandidat zwischen diesen beiden Polen zu positionieren. Pete Buttigieg versucht sich an einer Wiederholung von Obamas Rezept 2008, jugendliche Frische mit moderaten Positionen zu verbinden und das zu einem diffusen Change-Konzept zu verbinden, das möglichst vielen Unterstützern als Projektionsfläche dienen kann. Neu hinzugekommen sind außerdem Michael Bloomberg und Tom Steyer, beides Milliardäre, die der aus grenzenloser Hybris gezogenen Überzeugung sind, ihre Vermögen befähigten sie mehr als alles andere zur Herausforderung Trumps und Führung des Landes. Selbige Vermögen erlaubten es ihnen auch, direkten Zugang zu den Wählern zu erkaufen.
Das Spektrum, das den Wählern der Partei geboten wird, ist daher sehr divers. Dadurch ergibt sich praktisch automatisch die Frage, wer die besten Chancen gegen Trump haben möge. Manche Kandidaten bauen ihre komplette Kandidatur auf der angenommenen Qualität in diesem Bereich auf; sowohl Joe Biden als auch Pete Buttigieg personifizieren diesen Ansatz, einem back to normal. Andere hoffen eher, mit einem Politikwechsel reüssieren zu können. Die Diskussion um die electability, wie der oft bemühte Begriff lautet, dreht sich vor allem um Bernie Sanders: Ist er unwählbar?
Unelectable—that was said of both Trump and McGovern. In one instance, this was right. In the other, not so. Is the question of ideology the main difference between these two cases? McGovern was a warm and intelligent man. He was deemed a long-shot because of his ideas. Trump is a sociopath. He was deemed unelectable because of his checkered past and fundamental flaws as a human being. McGovern was demonized by the GOP attack machine for his policies.Diese Fragestellung aber führt in die Irre. Die Vergleiche zwischen Trump und McGovern machen nicht nur wenig Sinn, weil McGoverns historische Niederlage im Jahr 1972 lag. Auch andere Aspekte machen die Analogie wenig tragfähig. Nixon, heute schwer vorstellbar, wahlkämpfte 1972 als Kandidat der Mitte, für die silent majority. Trump ist ein schamlos fraktioneller Kandidat; er kämpft für eine Minderheit um Land, im Vertrauen darauf, dass eingebaute Vorteile im System und eine blinde Loyalität zum Sieg reichen würden.
Dass diese Rechnung aufgehen kann liegt an der seit 1972 deutlich gestiegenen Polarisierung. Es handelt sich hierbei zwar um ein asymmetrisches Phänomen; die Wählerschaft der Republicans ist deutlich radikalisierter als die der Democrats. Aber grundsätzlich betrifft es beide Seiten, und die permanenten Normenverstöße der GOP der letzten Jahre haben massiv dazu beigetragen, dass auch die Wählerschaft der Democrats in einem seit Jahrzehnten nicht mehr gesehenen Ausmaß geeint ist.
Daraus resultiert für diese Wahl etwas, das ich das "Gesetz der 42%" nennen möchte. Die Zahl bezieht sich dabei auf den unteren Rand des durchschnittlichen approval ratings für Trump. Egal was der Präsident tat, egal was er sagte, innerhalb kürzester Zeit war seine Zustimmungsrate wieder im selben Spektrum. Dieser Aspekt - dass Trump seine Wähler nicht verliert, egal was er tut - ist selbst nach vier Jahren immer noch nicht angekommen. Dabei hat Trump es im Wahlkampf 2016 selbst formuliert: Er könne jemanden auf der 5th Avenue erschießen, ohne Wähler zu verlieren. Praktisch irrelevant sind irgendwelche scheinbar krassen Aussagen:
In part because of Trump’s already prodigious fundraising, the old temptation to overstate the importance of the campaign war chest—and the electioneering efforts it can buy—will once again be present in 2020. As will the press’s quadrennial weakness for the supposedly game-changing gaffe, another Silver bête noire. Obama’s “lipstick on a pig” flap, Clinton’s “deplorables” remark—such moments may reveal aspects of a candidate’s character, but Silver believes the media consistently exaggerate their effect on voter behavior.Diese Aussage hat sich als wahr erwiesen. Und noch weitgehender: Er verliert auch keine Unterstützer im Kongress. Die Abgeordneten der GOP sind völlig auf Linie gebracht.
Eine mildere Form derselben Dynamik trifft aber auch auf die Democrats zu. Selbst wenn es bei denen "nur" 38% der Wähler sind - oder was auch immer die konkrete Zahl ist - die Polarisierung wird dafür sorgen, dass ein Szenario à la George McGovern oder Walter Mondale, wie 49 von 50 Staaten gegen Nixon bzw. Reagan verloren, praktisch ausgeschlossen ist. Auch, wenn Bernie Sanders der Kandidat sein sollte. Wenn Trump wieder siegt (was alles, aber nicht unwahrscheinlich ist), dann wird er Kalifornien und New York nicht gewinnen. Und wenn Trump verliert, wird er das mit den Stimmen Tennessees und West Virginias tun.
Das heißt nun aber nicht, dass es völlig egal ist, wen die Democrats aufstellen. Aber die Rechnung ist bei weitem nicht so einfach, wie das in den medialen Analysen manchmal den Eindruck macht.
Kandidaten wie Joe Biden und Pete Buttigieg etwa bauen ihre Attraktivität auf einen Kurs der linken Mitte, eine etwas aufgefrischte Version, die aber in einer klaren Kontinuität eines Bill Clinton oder Barack Obama stehen. Biden betont etwas mehr die Clinton'schen Aspekte einer Politik für die arbeitende Mehrheitsgesellschaft, während Buttigieg eher die Trickle-Down-Dynamik kanalisiert. Gesellschaftspolitisch stehen beide hinter dem Wandel der Partei der letzten Jahre, ohne diesen betonen oder forttreiben zu wollen.
Sanders und Warren dagegen stehen für einen klareren Politikwechsel. Sanders betont den Bruch mit dem bisherigen System deutlich mehr, am augenfälligsten durch seine Umarmung des Labels "Sozialismus", während Warren eher ihre Liebe zum Kapitalismus betont und als Reformerin statt als Revolutionär antritt. Die Unterschiede sind aber eher kosmetisch.
Bloomberg und Steyer schließlich bauen darauf, dass auch vier Jahre Trump nichts am Bedürfnis der Wähler nach einem Bruch mit der politischen Klasse generell geändert haben. Sie werben mit dem Trump'schen Rezept von "I alone can fix it", der Idee dass einen Outsider brauche, ohne die Last von Trumps offensichtlicher Inkompetenz und charakterlicher Mängel.
Es gibt mindestens so viele Meinungen dazu, wie es Journalisten und Politikberater gibt. Aber jeder, der behauptet, er wüsste, wie das Ganze ausgeht, verkauf Schlangenöl. Es ist schlichtweg völlig unklar, welches dieser Konzepte zum Erfolg führen wird und kann.
Deswegen müssen wir uns klar machen, was die Ausgangsgröße ist. Trotz einer insgesamt von allen Indikatoren als hervorragend eingeschätzten wirtschaftlichen Lage, trotz der Abwesenheit größerer Krisen, Kriege oder Katastrophen, bleibt die Ablehnung gegenüber Trump konstant über 50%. Einen so hohen Floor, unter den die Democrats praktisch nicht rutschen können, gab es bei keiner Wahl in der modernen Zeit.
Gleichzeitig reicht aber keiner der Parteien dieser Floor. 42% der Stimmen sicher im Sack zu haben gibt sicher ein schönes Sicherheitspolster und sorgt für ruhigere Nächte. Aber Wahlen werden halt nicht mit 42% der Stimmen gewonnen, sondern von 50%+1. In den USA braucht man dafür nicht einmal die Mehrheit der Wählerstimmen - anderenfalls hätten die Republicans nirgendwo im Bund eine Mehrheit -, aber diese Logik ist die absolute Baseline, um die niemand herumkommt.
Meine Analyse daher ist die Folgende. Bernie Sanders ist der Kandidat, bei dem die Bandbreite möglicher Ergebnisse am höchsten ist. Niemand hat das Potenzial, so hoch zu verlieren wie der Senator aus Vermont. Gleichzeitig hat auch niemand das Potenzial, im Optimalfall so stark in Trumps Kernwählerschaftssegmente einzuschneiden. Der andere Pol ist Joe Biden, der die sichere Bank darzustellen scheint.
Das Problem ist nur, dass die Wahl - wie jede Wahl - an zwei Faktoren hängen wird. Der eine davon ist Mobilisierung. Durch die Polarisierung ist es praktisch aussichtslos, Anhänger der Gegenseite konvertieren zu wollen. Deswegen ist es umso relevanter, mit der Stärke der eigenen Basis ins Ziel zu kommen. Trump ist das 2016 gelungen, den Democrats 2018.
Der andere Faktor ist das Überzeugen jener kleiner werdenden Gruppe, die sich der Polarisierung bisher entzogen haben: die Independents. Auch hier ist die Dynamik eindeutig. Vor allem durch den Comey-Brief wandten sich signifikante Teile dieser Gruppe 2016 kurzfristig von Hillary Clinton ab, während sie angesichts der Realität der Trump-Präsidentschaft 2018 ihre Stimme den Kandidaten der Democrats gaben.
Nur, wie gewinnt man beide Seiten? Trumps Strategie ist relativ klar. Er feuert seine Basis mit möglichst radikalen und kompromisslosen Stunts auf, eine Strategie, die eine beständige rhetorische Eskalation oder doch mindestens das Erhalten eines recht hohen Eskalationslevels erfordert. Trump ist, das kann man wohl sagen, dieser Herausforderung gewachsen. Gleichzeitig plant sein Wahlkampfteam, die Dynamik von 2016 zu wiederholen und den schlussendlichen Gegenkandidaten so niederzumachen, dass für die Independents kein qualitativer Unterschied mehr besteht - ein race to the bottom, bei dem ein Jauchegrubenbewohner wie Trump nur gewinnen kann. Hierfür ist die willige Mitarbeit der Leitmedien notwendig, eine Annahme, die angesichts der Dynamik von 2016 und der Weigerung, daraus zu lernen, nicht aus der Luft gegriffen ist.
Bei den Democrats steht daher die Frage, wer die Basis analog zu 2018 mobilisieren kann, im Mittelpunkt. Das ist bei weitem nicht klar. Jeder Kandidat bringt seinen eigenen Ballast in diese Frage mit. Joe Biden ist ein sehr alter, weißer Mann, der mit einem betont klassischen "Weiter-so"-Programm antritt. Sanders ist ein Sozialist. Warren ist eine professorale Frau. Buttigieg hat eine McKinsey-Vergangenheit und strahlt genau dieses Unternehmerberater-BWL-Schnösel-Flair gelegentlich auch aus. Bloomberg und Steyer sind beide keine Democrats, sie sind Außenseiter und Milliardäre.
Umgekehrt hat jeder dieser Kandidaten Vorteile, die sich jeweils in eine höhere Mobilisierung niederschlagen könnten. Biden kann frühere Kernwählergruppen reaktivieren und ist bei den schwarzen Wählern stark. Sanders hat die wohl enthusiastischste Unterstützergruppe und Rückhalt unter den Jungen. Warren hat eine starke persönliche Ausstrahlung und Synthese zwischen Revolution und Reform. Buttigieg offeriert das Obama-kompatible Charisma, Jugend und eine Change-Botschaft. Bloomberg und Steyer offerieren den Außenseiterstatus und die Fix-it-Attittüde.
Hinter jeder Kandidatur steht die Annahme, dass die jeweils eigene Theorie der Mobilisierung korrekt ist. Für welche davon - wenn überhaupt eine - das am Ende zutrifft, ist aktuell unklar. Eines allerdings ist so sicher, wie irgendetwas in der volatilen Welt der Politik nur sein kann: Einen Erdrutschsieg mit einer überwältigenden Bestätigung des eigenen Kurses ist für keine Seite zu erwarten.
Das hat Folgen. Einige der Kandidaten der Democrats mögen noch den Geist der guten alten Zeit beschwören und irgendwelche Visionen von der "Heilung" des Landes, vom "Zusammenbringen" der verfeindeten Hälften nach der Wahl zumindest öffentlich propagieren. Aber der lange republikanische Radikalisierungsprozess hat seine Spuren hinterlassen, und es ist zu spüren, dass in der Partei gerade etwas zerbricht.
Anstatt als inspirierend und aufbauend wahrgenommen zu werden, setzte sich Joe Biden mit seiner Vorstellung, mit Mitch McConnell Kompromisse ausarbeiten zu können, harscher Kritik aus. Praktisch alle Kandidaten haben ihre Rhetorik bezüglich ihres Programms von "Zusammenarbeit mit dem Kongress" auf "executive orders" umgestellt. Und der Impeachment-Prozess scheint für viele der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen gebraucht hat - zumindest, wenn Nancy Pelosis telegenes Zerreißen von Trumps Redemanuskript dafür ein Indikator ist.
Ich sehe das mit großer Bedrückung. Auf der einen Seite ist es Zeit, dass die Democrats endlich die Natur ihres Gegners und der Bedrohung anerkennen, der sie sich gegenüber sehen. Auf der anderen Seite wird das die GOP nicht zur Vernunft bringen. Die Polarisierung und Radikalisierung nachzuvollziehen mag ein Versuch sein, das Spielfeld wieder einzuebnen - aber es ist gleichzeitig ein weiterer Schritt auf einer schiefen Ebene (die Metapher gerät etwas außer Kontrolle).
Zudem ist überhaupt nicht gesagt, dass dieser Schritt für die Democrats ähnlich erfolgreich sein kann wie für die Republicans. Die Wählerschaft der Democrats ist bei weitem nicht so radikalisiert und homogen. Es existiert keine so abgeschlossene Blase wie das rechtsextreme Medienkonglomerat um FOX News, Talk Radio und Breitbart. Die Meinungen, Haltungen und Biographien der Wähler sind diverser. Es verwundert nicht, dass ein Jungtalent wie Alexandria Ocasio-Cortez daraus den Schluss zieht, dass die demokratische Koalition zu breit ist und sich verengen müsse - ein Schritt, wie ihn die GOP die letzten Jahrzehnte gegangen ist.
Ich kann nicht sagen, ob es erfolgreicher wäre. Ich kann nur sagen, dass ich es sehr bedauerlich fände, selbst wenn es funktioniert. Aktuell sind die Democrats die leuchtende Hoffnung für ein besseres, offeneres Amerika. Ich weiß nicht, ob ich es aushalten würde, ihnen auf dem Weg in einen kalten Bürgerkrieg die Stange zu halten - völlig unabhängig davon, ob es ihre Gegner waren, die ihnen diesen Weg aufgezwungen haben. Ich sehe nicht, wie eine Demokratie bestehen bleiben soll, in der das Gesetz der 42% Wahlen entscheidet - und nicht das der 51%.