Das Gemeinsame der spanischen und israelischen Protestbewegung

Von Walter

Trotz aller offensichtlichen Unterschiede bei den äusseren Bedingungen der spanischen und israelischen Protestbewegung gibt es auch einige Parallelen: bei den inneren Voraussetzungen, bei der Vorgehensweise und den Zielen. Es wird ein Muster sichtbar, das sich lohnt, genauer zu betrachten. Eine Spurensuche.

Zwar sehen nicht wenige Kommentatoren in den sozialen Protesten reine Verteilkämpfe um die verknappten finanziellen Ressourcen innerhalb der Gesellschaften – gleichsam «Hungerproteste» gegen den Sparwahnsinn der Regierungen. Trotzdem ist unübersehbar, dass es sowohl in Spanien wie in Israel – und man könnte weitere Länder im Aufruhr hinzunehmen – um wesentlich mehr geht: um mehr Teilhabe, weit über das rein Wirtschaftliche hinaus. Es ist wohl kaum vermessen, in beiden Ländern von demokratischen Erneuerungsbewegungen zu sprechen.

Besetzung des öffentlichen Raums
Das zeigt sich etwa an der dauerhaften Besetzung des öffentlichen Raums in Form von Protestcamps. Bis zu jenem Zeitpunkt war der öffentliche Raum hauptsächlich der kommerziellen Nutzung vorbehalten. Alles, was diesem einseitigen Nutzungskonzept nicht entspricht, etwa Bettler, «Randständige» und nichtkommerzielle Veranstaltungen, wird mehr und mehr aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Hauptsächlich die Innenstädte und zentralen Plätze werden «vom Gesinde gesäubert», damit die Einkäufe störungsfrei stattfinden können. Und nun das: Genau diese Orte wurden besetzt und zum Zentrum von festivalartigen Protestversammlungen, an denen in endlosen Diskussionen basisdemokratische Beschlüsse zum weiteren Vorgehen gefasst wurden. Erstaunlich auch die spontane Selbstorganisation in den Protestcamps – sowohl in Spanien wie in Israel: Es entstanden improvisierte Kindergärten und Schulen, ebenso selbstorganisierte Küchen. Dazu die junge Israelin Staff Shaffir in einem Interview mit n-tv: «Die Menschen haben mit ihren eigenen Händen eine neue Gesellschaft geschaffen. Das zu erleben, war für alle der Beginn neuer Hoffnung. Wir hatten sie schon verloren.»

Verschleierung der politischen Identität
Ebenso typisch für Spanien wie Israel: Es fehlen Führerfiguren – und vorgefertigte politische Konzepte. So sagt etwa der Journalist (und Teilnehmer an der spanischen Protestbewegung) Amador Fernández-Savater in einem Interview mit der argentinischen Zeitung «Página/12»: «Vielmehr spielen Leute ohne vorgängige politische Erfahrung eine Hauptrolle, Leute, die ihre Kraft nicht aus einem Programm oder einer Ideologie schöpfen, sondern aus persönlicher Betroffenheit und als Reaktion auf eigene Erfahrungen. Sie identifizieren sich weder mit der Linken noch mit der Rechten auf dem politischen Schachbrett, sondern entziehen sich diesem Muster, indem sie ein nicht-identitäres, offenes und einschliessendes Wir vorschlagen, in dem alle Platz haben.» Ganz ähnlich die Israelin Staff Shaffir: «Wir haben nicht über unsere Ängste diskutiert oder darüber, wie wir einer anderen Gruppe etwas wegnehmen können. Diesen Kreislauf haben wir durchbrochen und eine neue Sprache gefunden, die kein links und rechts, Ost und West oder Jude und Araber kennt. Es ging nur noch um den Menschen und seine Bedürfnisse zum Leben.»

Die Protestbewegungen in Spanien wie in Israel entziehen sich ganz bewusst der politischen Festschreibung – jedenfalls jener entlang der herkömmlichen Kategorien. Sie verfolgen diesbezüglich geradezu eine Taktik der Verschleierung, damit sie nicht wie willenslose Figuren auf dem Schachbrett der herkömmlichen Politik herumgeschoben werden. Dazu Amador Fernández-Savater: «Es gibt keine Antwort auf die (polizeiliche) Frage nach der Identität. Wer sind sie? Was wollen sie? Wir sind in einem Streik der Identität: Wir sind, was wir tun. Wir wollen, was wir sind.»

Ablehnung der herkömmlichen Politik
Diese Haltung ist auch der grundsätzlichen Ablehnung der herkömmlichen Politik geschuldet. Die Menschen in Spanien wie Israel fühlen sich von den Politikern und den Parteien im Stich gelassen – und vom Amok laufenden Neoliberalismus in ihrer Lebensgrundlage bedroht. In geradezu blinder Gefolgschaft fahren die Regierenden die staatlichen Dienstleistungen zurück und veräussern die öffentlichen Güter. Das Gemeinwesen wird ausgehungert und das Private, der Eigennutz gestärkt. Die farbigen Happenings im öffentlichen Raum und die fast schon verschwenderische Solidarität sind dazu ein starkes Gegenbild.

Auch wenn inzwischen die Protestcamps sowohl in Spanien wie in Israel (freiwillig) geräumt wurden, trägt der demokratische Erneuerungsimpuls weiter: In Israel entstanden überall im Land hunderte «runde Tische», an denen um reale Lösungen der drängendsten Probleme gerungen wird – dezentral und in Eigenverantwortung, aber vernetzt. Im Mittelpunkt stehen die Sorgen und Nöte der gewöhnlichen Menschen sowie deren Vorschläge zur Abhilfe, Vorschläge, die über die runden Tische an die Öffentlichkeit gelangen können. Zudem sollen an den runden Tischen die Ziele der Bewegung genauer festgelegt werden.

Der stille Teil der Bewegung
Die runden Tische zielen auch auf das, was Amador Fernández-Savater den «stillen Teil der Bewegung» nennt, also die Bevölkerung, die von der Protestbewegung berührt ist, selbst aber nicht aktiv daran teilnimmt. Dieser stille Teil der Bewegung ist nicht zu unterschätzen. In Israel rechnet man mit 87 Prozent der Bevölkerung, die die Protestbewegung unterstützen (siehe dazu: «Netanyahu losing public support over handling of Israeli housing protest» auf Haaretz.com). Und auch in Spanien ist die Solidarität mit der Protestbewegung riesig.

Widerstand gegen Zwangsräumungen
In Spanien ist die Protestbewegung nach Auflösung der Camps unter anderem zum gewaltlosen Widerstand gegen die zunehmenden Zwangsräumungen von Wohnungen übergegangen. Diese Zwangsräumungen erscheinen wie eine natürliche Folge der Zahlungsunfähigkeit ihrer Besitzer. Sie stellen das Recht der BewohnerInnen auf eine Bleibe drastisch in Frage – ein Recht übrigens, dessen Bedrohung auch am Anfang der israelischen Proteste stand. Doch diese Zwangsräumungen sind nicht ein natürliches Verhängnis, sondern letztlich ein politisches Problem und die Folge der neoliberalen Strukturanpassungen der letzten Jahre. Der Widerstand dagegen «… läuft über unsere Fähigkeit, die soziale Verbindung neu zu erfinden. Denn es ist nicht der Staat, der die Logik des Marktes aufhalten kann, sondern es ist der andere Unbekannte, der sich vor mein Haus stellt und den verhängnisvollen Automatismus der Zwangsräumung aufhält. Heute für mich, morgen für dich», so Amador Fernández-Savater.

Anfänge eines neuen Demokratieverständnisses?
Womöglich zeigen sich bei der spanischen wie der israelischen Protestbewegung die Anfänge einer «diversifizierten», zivilgesellschaftlichen Demokratie – um einiges bunter als die herkömmliche, alt gewordene Demokratie der Parteien mit ihren Einheitsfarben und Verfilzungen, was sie zunehmend antidemokratisch erscheinen lässt. In einer zivilgesellschaftlichen Demokratie könnten die Herausforderungen der Gegenwart ideologiefreier, dafür mit mehr Sachverstand und menschlichem Mass angegangen werden. Die Bevölkerung wäre nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Quelle der Demokratie, so wie das mal angedacht war … Die Protestbewegungen zeigen aber auch, dass sich die Individualität des Menschen immer weniger in Schemen und Parteien pressen lässt. Vielmehr wird jeder Mensch zu seiner eigenen «Partei» und übernimmt dafür auch zunehmend die Verantwortung.

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Fotos: oben «Indignados» von Julien Lagarde, unten «Nachmittag auf dem Boulevard», Tel Aviv, von Marc Berthold, boellstiftung (beide via flickr unter CC-Lizenz)


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