“Junge Welt”, 20.04.2012
Crowdfunding und Crowdsourcing: Neue Web-basierende Verwertungs- und Ausbeutungsstrukturen zielen auf Wissen und Finanzressourcen der Netzgemeinde
Das postapokalyptische Rollenspiel »Wasteland« (Ödland) gilt als eines der innovativsten Computerspiele der späten 80er Jahre. Vor allem unter Veteranen der Homecomputer-Ära genießt es immer noch Kultstatus. Als der Wasteland-Macher Brian Fargo jüngst in der Branche nach Investoren für einen Nachfolger Ausschau hielt, traf auf verschlossene Türen: Für solch alte Spielkonzepte gebe es keinen Markt, lautete unisono die Antwort der großen Publisher. Daraufhin meldete der Computerspiel-Pionier sein Projekt auf dem Crowdfunding-Portal »Kickstarter« an, um binnen weniger Wochen regelrecht mit Geld überflutet zu werden. Mit knapp drei Millionen US-Dollar wurde das selbstgesteckte Finanzierungsziel von 900000 Dollar weit übertroffen. Ein Schwarm von rund 61000 Unterstützern ermöglichte diese Anschubfinanzierung, wobei die einzelnen Zuwendungen zwischen Kleinstbeträgen von 15 bis zu Großspenden von 10000 Dollar lagen.
Kickstarter ist das bislang größte Portal der rasch wachsenden Branche des – oftmals auch als »Schwarmfinanzierung« bezeichneten – Crowdfunding (Crowd ist die Menge/der Schwarm; wohl auch die Meute im Netz), die mit immer neuen Finanzierungsrekorden ihr Nischendasein überwinden könnte. Der für seine intelligenten Adventure-Spiele bekannte Entwickler Tim Schafer mobilisierte sogar 3,3 Millionen Dollar über dasselbe Portals. Das Hardwareprojekt »Pebble«, das für die Produktion einer mit Smartphones eng vernetzten und frei programmierbaren »smarten« Uhr 100000 Dollar einsammeln wollte, erhielt von der Netzgemeinde die Rekordsumme von 4,8 Millionen Dollar. Kickstarter spezialisierte sich dabei auf die Anschubfinanzierung kreativer Projekte, bei der wir alle zu Kapitalgebern werden sollen. Neben der Finanzierung von Spielen und neuen Designprojekten können hier auch Filme, Dokumentationen, Bücher, Musikaufnahmen, Theateraufführungen oder auch soziale Vorhaben gesponsert werfen. Eine Schule in Washington ließ sich über das Portal ihr Programm zur gesunden Ernährung von Kindern finanzieren.
Bei den meisten Projekten auf Kickstarter und den kleineren, im deutschsprachigen Raum tätigen Portalen – wie etwa »Pling« oder »startnext« – ist die anonyme Internetgemeinde aber nicht als Investor, sondern eher als Sponsor tätig. Mit den eingezahlten Beträgen erwerben die Geldgeber zumeist keine Anteile an aufstrebenden Projekten, noch werden die eventuellen künftigen Gewinne an sie ausgeschüttet. Meist mutieren die »Investoren« auf den Crowdfunding-Plattformen zu reinen Konsumenten. Im Gegenzug für ihre Anschubfinanzierung erhalten sie das entsprechende Produkt. Zudem können die Geldgeber einen gewissen Einfluß auf die Produktgestaltung nehmen. Die Macher der »Pebble«-Uhr lassen ihre Investoren etwa über eine Farbvariante abstimmen. Das bekannteste Beispiel für ein durch Crowdfunding kofinanziertes Projekt, bei dem die Bezahler auch Ideen einbringen konnten, stellt die in den Kinos bereits angelaufene wirre Weltraumnaziklamotte »Iron Sky« dar. Das in Österreich tätige Portal »Respekt.net« konzentriert sich hingegen auf die Finanzierung sozialer Projekte, die laut Selbstdarstellung das »private, wirtschaftliche und öffentliche Leben voranbringen« sollen.
Das Ganze hat tatsächlich ein gewisses Wachstumspotential – vor allem vor dem Hintergrund der Systemkrise des Kapitals. Statt einer »Demokratisierung« des Internetkapitalimus – die von Apologeten gern halluziniert wird – findet lediglich eine Mobilisierung restlicher Finanzressourcen der Bevölkerung für neue Gebiete der Kapitalverwertung statt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Großkonzerne der Kulturindustrie dieses Prinzip für sich entdecken und einen Teil des Investitionsrisikos bei der x-ten Neuauflage von Star Wars oder Indiana Jones auf die Fans abwälzen. Andererseits kann »sozial« ausgerichtetes Crowdfunding zur Linderung krisenbedingter sozialer Verwerfungen beitragen, die der Rückzug des Staates aus dem Bereich mit sich bringt. Die Schwarmfinanzierung wäre dann Teil der kapitalistischen Krisenverwaltung.
Das Prinzip soll aber auch eine neue Ära der internetgestützten Prekarisierung und Flexibilisierung von Arbeit ermöglichen, wie sie seit dem 19. Jahrhundert zumindest in den industrialisierten Kernländern des kapitalistischen Weltsystems unvorstellbar war. Wohin die Reise für die Lohnarbeiter im von vermeintlich sozialen Netzwerken geprägten Web 2.0 gehen soll, enthüllte der Personalchef von IBM, Tim Ringo, in einem unachtsamen Moment im April 2010. Im Gespräch mit der Fachzeitschrift Personnel Today prognostizierte Ringo eine langfristige Reduzierung der Stammbelegschaft von IBM von 400000 auf rund 100000 Mitarbeiter. Konkretisiert wurden diese Pläne im Februar bei IBM-Deutschland, wo rund 8000 der 20000 Angestellten entlassen werden sollen, um hiernach über sogenanntes Crowdsourcing prekär erneut an den Konzern als eine Art Internet-Tagelöhner angebunden zu werden.
Über eine Vielzahl von Web-Portalen für IT-Arbeitskräfte wie »Top-Coder« sollen sich künftig freiberufliche Programmierer (wie ehemalige IBM-Mitarbeiter) um neue Arbeitsaufträge bemühen, die der Konzern dort ausschreiben wird. IBM möchte dadurch eine größtmögliche Masse (Crowd) freier Spezialisten an sich binden und deren Wissen und Fähigkeiten nur bei Bedarf abrufen. Dieses Prinzip des Crowdsourcing, das die Konkurrenz unter den vogelfreien IT-Kräften steigern soll, sieht IBM als wegweisend für die gesamte Branche an.