Das Geheimnis der leeren Flaschen

„Wie ist es denn, wenn Ihr Sohn duscht? Nimmt er da nur eine kleine Menge Duschmittel, oder muss es immer gleich die ganze Flasche sein?“, will die Beraterin von mir wissen.

Ich lache schallend. Woher kennt die Frau unseren Sohn? Sie hat ihn doch noch nie gesehen. Hat sich gerade mal zwanzig Minuten mit mir über ihn unterhalten und im Vorfeld noch nicht mal einen Bericht über ihn gelesen. Warum also weiss sie von den unzähligen Duschmittelflaschen, die vor dem Bad noch voll, danach aber leer waren? Was weiss sie von den Moralpredigten, die wir schon so oft gehalten haben, dass nicht nur unser Sohn, sondern auch der geschundene Planet, um den es in der Rede hauptsächlich geht, laut gähnt und die Augen verdreht? 

Die Beraterin weiss natürlich nichts von den Szenen, die sich jeweils in unserem Badezimmer abspielen. Aber sie weiss von Beeinträchtigungen, die dazu führen, dass scheinbar Selbstverständliches für manche Kinder einfach nicht verständlich ist. Sie weiss, dass sich solche Beeinträchtigungen manchmal im Klitzekleinen bemerkbar machen. Zum Beispiel beim Duschmittel. 

Und zum ersten Mal dämmert mir so richtig: Unser Sohn ist nicht der einzige, der trotz guter Auffassungsgabe einfach nicht nachvollziehen kann, weshalb das Duschmittel am Ende des Bades nicht leer sein sollte. Wir sind nicht die einzigen Eltern, die fassungslos die schon wieder leere Flasche in der Hand halten und uns fragen, was wir bloss falsch gemacht haben. Wir sind nicht die einzige Familie, die immer und immer wieder am scheinbar Banalen scheitern. 

Am Ende des Beratungsgesprächs bin ich erleichtert und traurig zugleich. Erleichtert, weil ich jetzt endlich verstehe, dass das, was wir alle manchmal als unendlich herausfordernd erleben, angesichts der Umstände vollkommen normal ist. Und traurig, weil ich das zu gerne früher schon gewusst hätte. Wir hätten uns dann nicht immer in aussichtslose Kämpfe verwickeln müssen, sondern längst schon nach den alternativen Lösungen gesucht, die wir jetzt zu finden anfangen.

Zum Beispiel, indem unser Sohn das Duschmittel nur noch in kleinen Portionen bekommt. Und diese Fläschchen darf er dann bis auf den letzten Tropfen leeren, ohne dass er von uns eine Moralpredigt zu hören bekommt. 

Das Geheimnis der leeren Flaschen


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