Madagaskar steht für Lemuren, Chamäleons und Reptilien sowie unzählige endemische Tier- und Pflanzenarten, für Reis und für rote Erde. Doch die Insel Madagaskar ist mehr.
Mit einer Tour auf die Insel Nosy Lava vor der Nordwestküste im Kanal von Mosambik können Reisende tiefe Einblicke in einen bis heute lebendigen Teil der madagassischen Geschichte erhalten.
Die Anfahrt von Analalava zur Insel Nosy Lava – türkisblaues Wasser und weiße Sanstrände.
25 Kilometer sind es vom madagassischen Festland zur Insel Nosy Lava, die in der Bucht von Narida (Baie de Narida) nördlich von Mahajanga liegt. Die Insel ist acht Kilometer lang und sechs Kilometer breit und gilt als fast unbewohnt.
Auf den ersten Blick sieht das Eiland tropisch schön aus, wie es vor der Küste liegt. Weißer Kalkstein und savannenartige karge Landschaft, umgeben von türkisfarbenem Wasser und ein weiter Sandstrand prägen das Bild. Nosy Lava ist eine von mehreren Inseln, die hier kurz vor dem Festland im Kanal von Mosambik liegen. Die Gegend ist beliebt für Segeltouren entlang Madagaskars Küste.
Die „Langen Insel“, wie Nosy Lava übersetzt heißt, hat jedoch eine Besonderheit. Eine tragische Besonderheit, die aus der Kolonialzeit rührt und die bis heute nicht wirklich an die Bevölkerung oder Reisende herangetragen wird.
Nosy Lava war ein Straflager. Von 1911 bis 2000 wurde die Insel als Standort für ein Hochsicherheits-Gefängnis mit bis zu 700 Inhaftierten genutzt.
Das Gefängnis wurde 1911 von der Französischen Kolonie in Betrieb genommen und diente als Straflager für politische Rebellen und Widerstandskämpfer gegen die Kolonialmacht. Die meisten Inhaftierten waren zu lebenslanger Haft oder zur Todesstrafe verurteilt.
Im Jahr 1960 wurde Madagaskars Unabhängigkeit ausgerufen. Dennoch wurden die Inhaftierungen auf Nosy Lava fortgeführt.
Ehemaliges Gefängnis auf der Insel Nosy Lava im Nordwesten Madagaskars.
Auch nach der Demontage des sozialistischen Regimes in den 1980er Jahren führte nicht zur Schließung des Gefängnisses. Noch immer saßen dort Häftlinge, deren Verurteilung auf die französische Verwaltung von vor 1960 zurückging. Und die Einrichtung erhielt weiter Häftlinge – trotz fehlender Finanzierung und fehlender Wartung der Räumlichkeiten. Die Verwaltung konnte es sich mit der Zeit nicht mehr leisten, die Gefangenen mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Dies führte zu einer absurden Handhabung:
Die als weniger gefährlich eingestuften Inhaftierten wurden in Halbfreiheit auf der Insel gehalten: Sie hatten tagsüber freien Auslauf auf der Insel, damit sie etwas zu essen finden und selbst ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Einige gingen fischen und verkauften den Fang an die Dorfbewohner am anderen Ende der Insel, andere bauten Maniok an oder brannten Toka gasy, den lokalen Rum. Auf der Insel entstand so ein Tauschhandel. Manche Häftlinge wurden auch ohne Gegenleistung von den Inselbewohnern versorgt und als Mitbürger angesehen.
Im Laufe der Zeit wurde das Gefängnis und die Gefangenen von Nosy Lava vergessen. Es gab Gefangene, die ihre Strafe längst abgebüßt hatten, aber dennoch mangels Alternative auf der Insel blieben.
Es finden sich nur wenige Informationen und Dokumente über das Gefängnis auf Nosy Lava.
Unklar ist zum Beispiel, anhand welcher Kriterien dieser Ort ausgewählt wurde, ebenso wie die genaue Anzahl der Inhaftierten, oder die Gründe für deren Verurteilung.
Auf dem weitläufigen Gefängnis-Gelände auf Nosy Lava stehen zahllose Ruinen.
Der madagassische Journalist Rivoherizo Andriakoto hat in seiner Reportage mit dem Titel “Die Verdammten dieser Erde” (im Original “Les Damnés de la Terre”) Informationen zur Strafanstalt auf der Insel vor und nach 1960 dokumentiert. Sie erschien im Jahr 1998 und wurde kurz darauf als gleichnamige Dokumentation verfilmt.
Der Film erhielt den französischen Albert Londres-Preis im Jahr 2000 und wurde daraufhin im Madagassischen Nationalfernsehen und auch in weiteren Ländern ausgestrahlt. Dies hatte einen solchen Einfluss, dass der damalige Präsident Madagaskars, Didier Ratsiraka, gezwungen wurde, alle Verurteilten, die noch auf der Insel gehalten wurden, freizulassen. Darunter waren viele eigentlich längst begnadigte Rebellen und Gefangene, wie u.a. Zebudiebe, die mehr als die zehnfache Zeit ihrer Verurteilung dort abgesessen hatten.
Das Gefängnis wurde offiziell im Jahr 2000 geschlossen. Noch heute leben vier ehemalige Gefangene auf der Insel oder in Analalava.
Sie arbeiten als Fischer, Wächter oder auch Guides für Besichtigungen auf Nosy Lava.
Seit Jahren versuchen sie, gemeinsam mit dem ehemaligen Gafängnis-Leiter von Analalava, ihre Anträge auf Begnadigung beim Präsidenten der Republik durchzubekommen.
Das weite Gelände des ehemaligen Gefängnisses reicht fast bis an den Strand. Die Ruinen dienen als Unterstand für Fischer. Der Anblick der Zellentüren, der hohen Mauern und des Verwaltungsgebäudes lassen die Geschichte lebendig werden. Mit den stark verwitterten Bauwerken, eingewachsenen Lianen, Sträuchern und schönen Perspektiven durch Fenster- und Türfronten finden Interessierte zahlreiche surreale Fotomotive.
Anreise:
Als Ausgangspunkt für Tagestouren auf die Lange Insel, eignet sich der Fischerort Analalava. Er liegt etwa 60 Kilometer westlich von Antsohihy auf der Hauptroute RN6 und ist per Boot oder – in der Trockenzeit – über die Piste RN31 zu erreichen.