Premiere! Meine erste. Aber ich konnte nicht widerstehen, bei der Blogparade mit dem Titel: Die zweite Clue Writing Blogparade mitzumachen. Die Spielregeln sind einfach: Schreibe eine Kurzgeschichte zu einem vorgegebenen Titel. Noch kurz vor dem Abgabetermin also hier meine Kurzgeschichte.
Das Geheimnis der Hundesitterin
An diesem Tag sollte alles anders werden. Heute würde der Plan entweder aufgehen oder das ganze Lügengebäude, das sich Clara über so lange Zeit aufgebaut hat, in sich zusammenfallen. Entweder, Blanca würde sie verstehen oder, ja, was dann?
Wie jeden Tag ging Clara also ins Tierheim, um die Hunde für ihren allmorgendlichen Spaziergang ins Kinderheim abzuholen. Sie hatte in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt das Projekt “Hundesitter für Kinder” aus der Taufe gehoben. Ein Projekt, auf das sie sehr stolz war, das aber nur einem Zweck diente: Zutritt zum Kinderheim zu bekommen. Es hatte sie neben dem Entzug und den Therapiesitzungen unendlich viel Kraft gekostet. Es war aber für lange Zeit der Strohhalm, der sie sprichwörtlich über Wasser hielt. Es war ein langer Weg, aber sie hatte es geschafft. Sie hatte einen Job, nichts Großes, aber es reichte zum Leben. Sie hatte ihr Leben aufgeräumt. Sich sogar noch kurz vor seinem Tod mit ihrem Vater versöhnt. Und nun sollte der nächste, letzte Schritt kommen, um alles wieder ins Reine zu bringen.
Sie war jedes mal, wenn sie mit den Hunden ins Heim kam, aufgeregt. Aber heute ganz besonders. Sie legte sich die Worte, um die sich ihr Leben seit zehn Jahren drehte, wieder und wieder zurecht. Aber es wollte ihr nicht gelingen, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Sie klangen immer falsch, egal, wie oft sie die Worte drehte.
Als sie das Gartentor öffnete, kamen alle Kinder wie jeden Tag auf sie und die drei Hunde zugestürmt. Alle bis auf Blanca. Das schmächtige Mädchen mit den traurigen Augen blieb wie immer im Hintergrund. Die Kinder tobten mit den Hunden, streichelten sie, warfen Bälle und verteilten Leckerlis, die Clara immer in der Tasche hatte. Erst, als sich alle anderen Kinder sattgespielt und -gestreichelt hatten und sich wieder anderen Beschäftigungen widmeten, kam Blanca langsam auf ihren Lieblingshund Rasputin zu.
Einen kleinen struppigen Mischling. Frech und eigensinnig. Aber Rasputin liebte Blanca und Blanca liebte Rasputin. Clara genoss diese viel zu kurze Zeit des Tages am meisten. Es graute ihr immer schon davor, in ihre leere Zweizimmerwohnung zurückzukommen, in der sie sich immer etwas wie eine Gefangene vorkam. Alleine mit ihren Gedanken und Sehnsüchten.
Blanca saß mit Rasputin auf dem Boden, streichelte ihn und ab und zu redete das sonst so wortkarge Mädchen sogar mit ihr. Über die Schule, über eine Freundin, die mal Lara, mal Lena und manchmal Tessa hieß. Heute ergriff Clara mit zitternder Stimme das Wort:
“Hallo Blanca. Wie geht es dir?”
“Gut.”
“Ich möchte Dich etwas fragen.”
“Was denn?”
“Wie fühlst Du Dich denn hier in der Wohngruppe?”
“Ich hab mich daran gewöhnt.”
“Könntest Du Dir vorstellen, wieder bei jemandem zu wohnen?”
“Hm.”
“Ich meine, ich würde…Weißt Du, wir kennen uns jetzt schon einige Zeit. Wir haben viele Gemeinsamkeiten. Wir mögen Hunde. Wir hören gerne DreiFragezeichen-Kassetten. Wir sind beide manchmal einsam.”
“Und?”
“Ich würde gerne beim Jugendamt fragen, ob Du bei mir als Pflegekind wohnen kannst. Was sagst Du?”
“Nein.”
“Ich kann verstehen, wenn Du Angst hast. Die letzte Familie, in der Du gewohnt hast, war ja nicht so toll. Aber du hättest Dein eigenes Zimmer, ich würde im Wohnzimmer schlafen. Du hättest einen eigenen Hund. Wir würden viel Spaß zusammen haben.”
“Hm.”
“Da ist noch etwas, was Du wissen solltest…”
“Ich würde schon gerne. Irgendwann vielleicht. Aber ich bleibe hier, bis mich meine echte Mutter abholt. Irgendwann kommt sie. Ich weiß das.”
Claras Herz machte einen Sprung.
“Das klingt schön. Wir müssen…was ich…”
“Und wenn sie mich dann holen will, sag ich ihr, wie sehr ich sie hasse. Dafür, dass sie mich alleine gelassen hat. Hier. In diesem Heim. Ich werde sie bestrafen. Für jeden einzelnen Tag, den ich in schrecklichen Pflegefamilien war. Für jeden Tag, an dem ich aus dem Fenster geguckt und gewartet habe. Für jede fremde Frau, die ich für meine Mutter gehalten habe, wenn sie durch das Gartentor kam. Ich kann nicht verzeihen. Nicht mehr.”
Clara wurde kalt. Sie klang so erwachsen. So voller Hass und Rachsucht. Blanca kraulte Rasputin mechanisch den Bauch und der Hund fing an, nervös mit den Ohren zu zucken.
Clara legte so viel Gewicht und Aufrichtigkeit in ihre Stimme, wie sie konnte: “Das kann ich gut verstehen. Das würde ich an Deiner Stelle vielleicht genauso machen.”
“Sehen wir uns morgen?”
Clara antwortete mit einem dicken Kloß im Hals: “Wie jeden Tag.”
Wie jeden Tag ging Clara über die Brücke in Richtung Tierheim zurück. Sie guckte wie jeden Tag auf die Autos herunter, die auf der Autobahn unter ihr dahinschossen und dachte über ihren Besuch bei Blanca nach.
Sie hatte die Hunde am Geländer angebunden. Jemand würde sie wohl finden und ins Tierheim zurückbringen.
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