Billy lebt als jüngstes von drei Kindern in einer intellektuellen Familie. Der Vater ist Akademiker und Sprachfreak, die Mutter schreibt an einem Roman, der ältere Bruder Daniel brütet über seiner Masterarbeit über die Funktion der Sprache und seine Schwester Ruth möchte Opernsängerin werden. Billy, Anfang 20, hat keine Pläne. Er ist von Geburt an gehörlos, kann aber dank seiner Mutter perfekt Lippenlesen und sich auch verständlich ausdrücken. Welchen Beruf er ergreifen möchte steht jedoch in den Sternen.
„Die Sippschaft“, ein Theaterstück der Britin Nina Raine (Jahrgang 1976), wird derzeit im Theater Scala aufgeführt. Es erzählt jedoch nicht nur von Billy, sondern auch von seiner Freundin Sylvia, die zwar hörend geboren wurde, aber aufgrund einer genetischen Erkrankung taub wird.
Babett Arens drückt mit ihrer Regie tempomäßig aufs Gas, was dem Stück sehr gut tut. Von der ersten Minute an befindet man sich in einem furiosen Familiengerangel, bei dem, bis auf Billy, jeder gegen jeden auftritt: Der mit seinem Schicksal hadernde Vater, der die Kinder schon gerne außer Haus sehen würde (glänzend dauergrantelnd Clemens Aap Lindenberg), die stets ausgleichende Mutter (Marion Rottenhofer), Ruth (Anna Sagaischek unglaublich bodenständig und authentisch) und Daniel (Eric Lingens), der ohne seine Psychopharmaka die Stimmen seiner Autoritätspersonen hört.
Man meint, sich in einer Familienhölle zu befinden, als plötzlich Sylvia zur „Sippschaft“ stößt. Mit ihrer komplett anderen Lebenserfahrung als junge Frau, deren Hörvermögen schwindet und deren Eltern und Bruder taub sind, bringt sie das Gefüge von Billys Familie komplett durcheinander. Die größte Ablehnung erfährt sie, weil Billy sich dazu entschließt, Gebärdensprache zu lernen. Etwas, das seine Familie stets zu verhindern wusste. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern im guten Glauben, ihn damit bestmöglich in die Gesellschaft der Hörenden integrieren zu können. Wie sich herausstellen wird, führte dies jedoch nicht zur Integration, sondern eher zum Ausschluss ihres Jüngsten. Unbemerkt von seiner Familie lebte er neben ihnen ein zurückgezogenes Leben mit der geringst möglichen Teilnahme am familiären Geschehen.
Einer Konversation hörend zu folgen, ist weit nicht so anstrengend als permanent den anderen von den Lippen lesen zu müssen, was auch nur bedingt gelingt. Denn sobald Billy sich von seiner Umgebung abwendet, ist die Kommunikation komplett abgebrochen. Außer ihm fällt das aber niemandem auf. Die Autorin wirft geschickt einige Fragen auf, die sich alle, die sich mit Gehörlosen beschäftigen, zwangsläufig einmal stellen. Kann alles, was man spricht und schreibt auch tatsächlich in Gebärdensprache übersetzt werden oder ist die deutsche Gebärdensprache, wie der Vater sich ausdrückt nicht so etwas wie „ein gebrochenes Deutsch“?
Führt der Einsatz von Gebärdensprache nicht automatisch dazu, sich der Community der Gehörlosen verstärkt zuzuwenden was gleichzeitig eine Einschränkung von sozialen Kontakten mit Hörenden bedeuten könnte? Wenn Sprache das Denken ursächlich beeinflusst, verflacht dieses, wenn man ausschließlich in Gebärdensprache kommuniziert?
Auf einige dieser Fragen gibt Sylvia plausibel Antwort. Andere Bedenken wiederum kann sie auch nicht zerstreuen. „Billy befindet sich gerade in einem Honeymoon“, beschreibt sie die Gefühle ihres Liebsten gegenüber seiner Integration in die Gehörlosen-Community. Aber sie fügt auch hinzu, dass er später drauf kommen wird, dass es dort immer nur dieselben Gesichter zu sehen gibt, dieselben Tratschereien zu hören und man sich schließlich in dieser Runde auch eingeengt fühlen kann. Sylvias Liebe zu Billy wird in einer Szene auf eine harte Probe gestellt, aber ihre Aufrichtigkeit und die Fähigkeit, Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen, sind Glücksparameter auf dem Lebensweg dieser jungen Frau, die von Melanie Flicker überaus sympathisch dargestellt wird. Ihre Idee, Billy bei der Kripo unterzubringen, funktioniert. Dank seiner Lippenlesekenntnis kann er tonlos aufgenommene Gespräche von Menschen in die Schrift transkribieren.
Die Bühne von Marcus Ganser zeigt den familiären Wohn-Essraum sowie ein kleines Appartment von Billy und Sylvia. Zwar ist letzteres als Erstwohnung eines jungen Paares zwangsläufig nicht großzügig angelegt. Allerdings erweckt es zugleich auch den Eindruck, dass die beiden dort wie in einem Kokon leben, der sie komplett von der Außenwelt abschirmt.
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Thomas Marchart bewegt sich auf der Bühne als hätte er in seinem Leben nie anders kommuniziert. Wüsste man nicht, dass der junge Mann keine Hörbeeinträchtigung hat, man würde ihm die Gehörlosigkeit und die damit verbundene Art des monotonen Sprechgesangs sofort abnehmen. Großartig, wie er geduldig immer und immer wieder verschiedene Worte wiederholt, weil seine Familie ihn zeitweise nicht verstehen kann. Umwerfend, wie er mit einem Schelm im Nacken und mit den Worten „Weil es einfach lustig war!“, seine beruflichen Verfehlungen eingesteht – die hier nicht näher beschrieben werden sollen, sonst macht der Theaterabend nicht so großen Spaß. Marchart ist es auch gelungen, während der Proben zu dem Stück Freunde unter Gehörlosen zu finden. Eine Bestätigung, die zugleich zeigt, welch phantastische Arbeit und welches Einfühlungsvermögen der junge Mann hier vorgelegt hat.
Durch Übertitel, die von den ersten Sitzreihen nicht zu sehen sind, ist es möglich, dass auch Gehörlose den Text der Vorstellung komplett mitverfolgen können. Ein Service, das bei deutschsprachigen Aufführungen so gut wie nie in Österreich angeboten wird. Nina Raine legt ihren Finger nicht nur auf die Wunde einer Gesellschaft, die Minderheiten gerne ausblendet. Sie zeigt auch auf, wie ungesund sich eine hierarchisch gewachsene Familienstruktur auf ihre Mitglieder auswirkt. Die Abhängigkeiten, die zwischen den Geschwistern und den Eltern bestehen, gehen so weit, dass es schließlich für jeden einzelnen der jungen Leute eine große Herausforderung bedeutet, sich auf die eigenen Beine zu stellen. Ein höchst amüsanter Theaterabend mit Tiefgang. Eine seltene Kombination.
Weitere Vorstellungstermine auf der Internetseite des Theater Scala.