Für die Beschreibung dieses Debütromans der jungen Autorin Katharina Hartwell müsste man erst ein Adjektiv erfinden, das die beiden Eigenschaften „düster“ und „hoffnungsvoll“ vereint, auch wenn diese doch komplett gegensätzlicher Natur sind.
Denn was den mutigen Leser, der nach der ersten – wahrlich apokalyptischen – Geschichte nicht aufgibt, im weiteren Verlauf des Buches erwartet, ist eben nicht nur zutiefst dunkel und so manches Mal frustrierend, sondern birgt auch immer einen Schimmer Zuversicht. Und das ist schon große literarische Kunst: Jeder hoffnungslosen Situation noch ein Ende abzutrotzen, das die Möglichkeit einer Rettung in sich birgt. Doch die wahre Größe von Hartwells Werk eröffnet sich erst mit der letzten, alles auflösenden Geschichte. Daher könnte man dem Leser auch raten, seine Lektüre mit dem Schlusskapitel zu beginnen, das allen vorangegangenen neun Geschichten auf einmal einen Sinn, einen Zusammenhang gibt. Diesen hat man zwar schon erahnt, gab es doch in einigen Kapiteln immer wieder Hinweise auf bereits erwähnte Personen, Städte, Gebäude und Begebenheiten, doch erst mit dem zu Tränen rührenden Schluss erschließt sich das große Ganze. Und wie die junge, am Leipziger Literaturinstitut studierende Autorin hier von Abschied und Trauer, von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung berichtet, das zeugt von einem Einfühlungsvermögen und einer Vorstellungskraft, die sonst nur lebenserfahrenen, weisen Menschen zugesprochen wird. Man spürt beim Lesen der Geschichte von Jan und Marie förmlich den Schmerz, den die Ich-Erzählerin empfindet, auch am eigenen Leib: „In den ersten beiden Wochen […] fühle ich mich wie aufgespießt; in meinem Körper steckt ein Pfahl, ich spüre ihn im Brustkorb, im Magen, er drängt die Organe ab.“
In jedem einzelnen der zehn Kapitel suchen und finden sich zwei Menschen, die einfach füreinander geschaffen sind, und man bewundert oft die Sicherheit, mit der diese spüren, dass dies eine unumstößliche Tatsache ist. Und deshalb riskieren sie auch immer sehr viel, manchmal alles: Denn für ein neues Leben genügt es nicht, sich nur die Haare zu schneiden und die Kleider zu wechseln. Will man wirklich etwas Grundsätzliches ändern, ist dies mit großen Schmerzen, ja mit Höllenqualen verbunden. So wie bei Miranda, der Prinzessin, die lieber ein Ritter sein wollte. In einer der schönsten Geschichten des ganzen Buches setzt sie für diesen Traum ihr Leben aufs Spiel.
Ein wenig befremdlich mag es für die Landratten unter den Lesern sein, dass das Meer mit seinen Geheimnissen und alten Legenden von Tauchern, die sich die Menschen zu sich in die Tiefe holen, so ganz anders beschrieben wird, als man es vom immer wieder herbeigesehnten Urlaub an der braven Ostsee kennt. Umso mehr muss man sich wundern, dass die Autorin nicht von einer einsamen Nordseeinsel, sondern aus Köln stammt, wo lediglich der Rhein träge und wellenlos dahingleitet. Denn mit welcher Sicherheit sie die dunklen Erzählungen der Alten in ihre Geschichten einwebt, das ließe vermuten, sie sei mit ihnen groß geworden und hätte sie beim Einschlafen selbst immer zu hören bekommen.
Obwohl Das fremde Meer letztendlich von der Liebe handelt, ist es kein leichter Stoff, der dem Leser hier zugemutet wird, aber es ist wahre Literatur, die es vermag, den Leser in ihren Bann zu ziehen und noch lange nach dem letzten Kapitel dessen Gedanken zu beschäftigen. Und das will bei der Masse von mittelmäßigen und schlechten Romanen, die ständig auf den Markt geworfen werden und der Fülle von Informationen und Eindrücken, die täglich verarbeitet werden wollen, schon etwas heißen! Da kann und sollte man gespannt sein, was diese junge Frau uns in Zukunft noch für Geschichten zu bieten hat, wenn sie ihr Studium erst einmal beendet haben wird. Den Namen Katharina Hartwell sollte man sich jedenfalls unbedingt einprägen!