Hallo liebe Freundinnen und Freunde der Regenbogenkombüse,
ich weiß ja nicht, wie es Ihnen/ Euch geht. Ich gehöre ja eher zu den guten, aber durchaus vorsichtigen Essern. Das heißt, ich esse gern und probiere gern Neues aus, achte aber ziemlich genau darauf, was ich esse. Zum einen ist mir die Qualität der Zutaten wichtig. Wenn ich zum Beispiel eine Eierspeise zubereite, möchte ich wissen, woher die Eier kommen und wie die Hühner, die sie gelegt haben, gehalten werden. Was Obst und Gemüse betrifft, da kaufe ich gern regional und saisonal, obwohl ich bei Bananen (meine heimliche Passion!) und Zitrusfrüchten eine Ausnahme mache. Brot backe ich oft selbst, allerdings nicht so oft, wie ich eigentlich möchte…. Am Ende eines Esstages ziehe ich innerlich eine Bilanz und checke im Kopf, ob ich tatsächlich meine täglich 5 und mehr Portionen an Obst und Gemüse gemümmelt habe. Und habe oft ein schlechtes Gewissen, weil ich zu viel von diesem und zu wenig von jenem gegessen habe. Wie gesagt, ich bin eher ein vorsichtiger, kopfgesteuerter Esser.
Franzosen essen anders
Jedes Mal wenn ich nach Frankreich komme, sehe ich mit Erstaunen, was dort, ohne dass man anscheinend auch nur einen Gedanken an die Gesundheit, Cholesterinwerte oder Hüftringe verschwendet, getafelt wird. Zum Frühstück gibt es klassischerweise Croissant mit Konfitüre und Butter. Nun, die Croissants gibt es inzwischen auch mit “gesunderem” Sonnenblumenöl gebacken, doch wie unlängst eine französische Bekannte zu mir sagte: “In ein anständiges Croissant gehört nun mal Butter. Viel Butter. Sonst schmeckt und krümelt es nicht so gut!” Eh bien….
Mittags gibt es, von der “Stressmetropole” Paris vielleicht einmal abgsehen, ein richtiges Mittagessen. Richtig heißt à la française, dass man sich nicht eine Wurstsemmel oder einen Burger auf die Faust holt, sondern dass im Restaurant und auch in erstaunlich vielen Kantinen ein kleines Menü angeboten wird. Dem man sich mit viel Zeit und Genuss widmet. Dazu darf, bien sur, ein Gläschen Rotwein nicht fehlen.
Wer um die Mittagszeit in Frankreich auf den großen Nationalstraßen unterwegs ist, wird feststellen, dass es sich dort ab 12 Uhr schlagartig leert. Kaum ein LKW noch die Sprinter der ortsansässigen Handwerker sind um diese Uhrzeit noch unterwegs. Selbst die Privatpkws biegen mittags gegen 12 auf die Parkplätze der Restaurants oder auf die entlang der Nationales angelegten Parkplätze ab. Dort wird dann der Kofferraum geöffnet und die Kühltasche mit dem Mittagsmahl ausgepackt. Bei Käse, Paté, Obst und Baguette sowie Wasser aus der Flasche und Kaffee aus der Thermoskanne macht man es sich mittags neben den großen Durchfahrtstraßen gemütlich. Frei nach dem Motto: Il faut manger…
Abends ist die Zeit in der Familie, in der richtig gekocht wird. Mit hochwertigen, abwechslungsreichen und vor allem frischen Zutaten. Dann versammelt sich die Familie am Abendbrottisch, tauscht sich über die Geschehnisse des Tages aus und isst mit Muße und Genuss. Dazu darf das eine oder andere Gläschen Rotwein nicht fehlen. Während des Essens sind weder die Kalorien, das “ungesunde” Fett, der Cholesterinspiegel, der Zustand der Leber noch die Skala der Waage ein Gesprächsthema.
Gibt es Genuss ohne Reue?
Da denkt man sich doch: So viel Unvernunft in Küchen und an Esstischen kann nicht gut gehen! Früher und eben nicht später werden die genussfreudigen und trinkfesten Franzosen für ihr Verhalten die Zeche zahlen müssen. Hemmungsloser Genuss muss schließlich unbweigerlich mit schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen bestraft werden.
Wirft man einen Blick auf die Statistiken, zeigt sich hier ein anderes Bild. Wer hätte erwartet, dass die Franzosen sich nicht mit Messer und Gabel ein frühes Grab schaufeln, sondern in Europa, was die Lebenserwartung betrifft, mit an der absoluten Spitze liegen? Im Land des Savoir vivre gibt es zudem derzeit etwa 15000 Einwohner, die die Hundert überschritten haben. Schätzungen gehen davon aus, dass es bis zum Jahr 2060 bis zu 200.000 sein werden. Einen Tick länger leben in Europa nur die ebenfalls genussfreudigen Italiener und Spanier. Obwohl sie die Rangliste im Verzehr von rotem Fleisch in Europa anführen.
Das Französsiche Paradox
Verkehrte Welt? Irgendwie schon. Deshalb heißt dieses Phänomen, das bereits im Jahr 1819 dem irischen Artz Samuel Black auffiel, auch das Französische Paradox. Der Begriff selbst wurde 1992 von Dr. Serge Renaud, einem Forscher an der Universität Bordeaux, in die medizinische Umlaufbahn gebracht.
Bis heute gibt es zwar viele, aber keine eindeutige Erklärung dafür, warum Buttercroissants, Entenconfit, Boeuf Bourgignon, üppige, mit Sahne und Crème fraiche angerührte Soßen, Crème brulée und Mousse au chocolat eine ganze Nation nicht ins frühe Grab bringen. Ganz im Gegenteil. So erkranken französische Männer im Alter zwischen 45 und 75 in etwa nur halb so oft an Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie ihre irischen Nachbarn. Gerade Frauen erfreuen sich, vor allem in den Regionen Frankreichs, in denen traditionell Rotwein angebaut wird, eines langen und gesunden Alters.
Versuche einer wissenschaftlichen Erklärung für das Französische Paradox liegen vor allem dort, wo ich und alle anderen “vorsichtigen” Essern sie nicht vermutet hätten. Unter anderem beim Käse und beim Wein.
Eine gute Nachricht für alle Käseliebhaber
Gerade in französischem Käse steckt viel Geschmack, aber auch viele ungesättigte Fettsäuren und Cholesterin. Tant pis! Macht nichts, so behaupten die epidemiologischen Studien von Dr. Serge Renaud. Danach lässt sich keine Korrelation zwischen Käsekonsum und Herzinfarktrisiko erkennen. Weil nämlich das Cholesterin wie auch die im Käse enthaltenen Fette während des Fermentierungsprozesses an das Kalzium gebunden und damit kaum vom menschlichen Körper aufgenommen werden. Eine prima Nachricht für alle Käseliebhaber und Käseliebhaberinnen, zu denen ich mich auch zähle!
Ein Gläschen in Ehren
Dann ist da noch die Sache mit dem Wein. Besser gesagt mit dem Rotwein. Der bei keiner französischen Mahlzeit auf dem Tisch fehlen darf. Keine Frage – ein Zuviel auch des besten, behutsam im Eichenfaß gereiften Grand Cru ist giftig für die Leber und langfristig krebseeregend. In Maßen und regelmäßig genossen ist Wein, wie viele Studien zeigen, jedoch gesundheitsförderlich, gerade was die Herz-Kreislauf-Erkrankungen betrifft. Denn Rotwein ist mit vielen der Gesundheit förderlichen bioaktiven Substanzen ausgestattet, die sozusagen von der Traube in die Flasche wandern. Besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang OPC (oligomere Procyanidine) und Resveratol, die nicht nur gefäßschützend, sondern auch entzündungshemmend und antioxidativ wirken.
Doch Wein und Käse allein sind nicht die einzigen Erklärungen für den “Jungbrunnen” der Franzosen. Ein wichtiges Gesundheitplus sind ebenso die unendliche Vielfalt der Speisen und ihrer Zutaten, die vorwiegend saisonal und frisch verarbeitet werden. Außerdem werden vermeintlich “fettige” Zutaten wie Fleischgerichte mit Soße und Käse geschickt mit frischen Salaten, nur leicht in Öl geschwenktem Gemüse und frischen Früchten gepaart. So herrscht traditionell nicht nur Abwechslung, sondern auch ein gesunder, regionaler wie auch saisonaler Mix auf dem Teller.
Gutes, hochwertiges Essen als Lebeneinstellung
Meine Erklärung des Französischen Paradox ist jedoch noch eine weitere. Haben Sie/ Habt Ihr in Frankreich schon einmal im Restaurant Euren/ Ihren französischen Nachbarn beim Essen zugeschaut? Da wird nicht gehetzt und geschlungen. Jeder Bissen wird mit Bedacht und Achtsamkeit gegessen. Der Wein dient nicht zum Herunterspülen des Gegessenen (dazu steht auf jedem Tisch mindestens eine Flasche Wasser) oder um sich zu betrinken, sondern ist eine kulinarische Erweiterung des Menüs. Ohne den passenden Wein ist das Menü nicht perfekt.
Ob es am Wein oder am Essen selbst liegt, kann ich nicht sagen, aber in Frankreich wird zudem während des Essens munter geplaudert. Meist sogar über das, was man gerade auf dem Teller vorfindet. Man tauscht sich darüber aus, wie und warum es gerade so gut schmeckt, schwelgt in Erinnerungen an andere gelungene Restaurantbesuche, gibt Tipps, wo der beste Rohmilchkäse, die perfekten Erdbeeren oder der beste Winzer zu finden sind. Essen ist somit eine ernste, aber auch vergnügliche Angelegenheit. Die Körper und Geist Freude bereitet.
Du bist, was du isst. Diese traditionelle Weisheit scheint sich ganz besonders in Frankreich zu bewahrheiten.
Was wir von den Franzosen lernen können
In Zeiten, in denen hier in Deutschland die Suche nach der vermeintlich gesündesten Form der Ernährung zum Lifestyle gehört, der Griff nach einem Schokoriegel, Stück Kuchen, die Fettaugen auf der Suppe und die Butter auf dem Brot oftmals als moralische Verfehlungen gelten, können wir, wie ich finde, viel von unseren Nachbarn lernen. In Frankreich geht es nicht darum, das Leben stets “vorbeugend” und “vernünftig” zu gestalten, sondern es mit allen Sinnen zu erleben.
Ich, für meinen Teil, habe mir auf jeden Fall vorgenommen, meine Übervorsicht noch einmal zu überdenken. Natürlich werde ich, was die Hochwertigkeit der Lebensmittel, die ich verwende, keine Abstriche machen. Auch der Tierschutz wird weiterhin eins meiner primären Anliegen bleiben. Aber ich werde nicht mehr länger vor dem Kühlschrank stehen und mit mir hadern, ob ich mir das Stückchen Rohmilchkäse, worauf ich schon seit 3 Stunden Appetit habe, jetzt gönne oder nicht. Ich werde wieder lernen, auf meinen Körper zu hören. Denn ESS-Lust bedeutet gleichzeitig auch LEBENS-Lust!
In diesem Sinn: Bon Appétit und à bientôt.
Heike Kügler-Anger