Es ist schon ein beeindruckender Klangteppich, der sich dieser Tage im Haus an der Wienzeile ausbreitet: Unter Cornelius Meister feierte am 12. Dezember Benjamin Brittens „Peter Grimes“ Premiere im Theater an der Wien.
Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien übersetzt Brittens Musik, die einem in unglaublicher Lebhaftigkeit das raue, unwirtliche und stürmische Seemannsleben vor Augen führt, in ein fantastisches Klangerlebnis. Die bei ihrer Uraufführung kurz nach Kriegsende 1945 in London stürmisch umjubelte Oper, rund um einen von der Gesellschaft verstoßenen Fischer im kleinbürgerlichen England, beeindruckt auch heute noch. Vor allem, wei sich die Mechanismen, Menschen aus einer Gemeinschaft auszustoßen, in den letzten hundert Jahren nicht gewandelt haben.
Die Musik, die Britten verwendete, ist in höchstem Maß illustrierend. Wenn zum Beispiel der grobschlächtige Fuhrmann Hobson in seiner Arie erklärt, dass er dem Fischer Grimes keine Hilfsdienste erweist, dann hört man das Fuhrwerk in der Musik förmlich rumpeln. Sturm und Wellen, die immer wieder besungen werden, setzt Britten nicht in symphonischer Breite um. Es genügen ihm einfache Harfenläufe und Holzbläser, um das Naturschauspiel auch vor dem inneren Auge des Publikums ablaufen zu lassen. Das sind nur zwei Beispiele von vielen, die zeigen, dass das musikalische Geschehen trotz seiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts ungewohnten Hörerlebnisse, die dennoch immer im Dur-Moll-Gefüge bleiben, darauf bedacht ist, nicht nur Emotionen, sondern auch Bilder und sogar Geräusche umzusetzen.
Die Inszenierung von Christof Loy (zuletzt 2015 mit „La Straniera“ im Theater an der Wien) lässt im wahrsten Sinne des Wortes Raum – Raum für Peter Grimes in jedem von uns. Ein simpler schwarzer Kubus mit einer zum Orchestergraben abfallenden schrägen Bühne dient als Schauplatz von Benjamin Brittens vertonter Gesellschaftsstudie (Libretto: Montagu Slater) nach George Crabbes 1810 erschienener Verserzählung „The Borough“. Die Bühne stellt eine Küstenlinie dar. Die hinteren 2 Drittel sind in Sand- bzw. Naturfarben gehalten, wohingegen das vordere Drittel den blauen Ozean versinnbildlicht. Farbtechnisch findet sich diese Zweiteilung auch im Kostümbild von Judith Weihrauch wider. Peter Grimes – in Beige gekleidet, landverbunden in Sinne der Suche nach Anerkennung und Akzeptanz, und Balstrode als ehemaliger Kapitän in Blau gekleidet. Und da wäre dann noch das Bett – das ausstattungstechnisch markanteste Objekt und zugleich die einzige Konstante des Bühnenbildes. Platziert am vordersten Rand der Bühne liebäugelt es – wie im Übrigen durch die extreme Schräge bedingt der ganze Bühnenraum – fast schadenfroh mit dem Abgrund des Orchestergrabens – ja es ragt sogar zu einem beträchtlichen Teil darüber hinaus in die Leere. Der intimste Ort eines Menschen als Mittelpunkt der Inszenierung wird so zum Spiegel des Protagonisten – zwischen 2 Welten gefangen, mit dem unumstößlich tragischen Schicksal aus dem Leben zu fallen. Obwohl nur des Öfteren Stühle vom Chor (eindrucksvoll präzise: Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von Erwin Ortner) neu arrangiert werden, füllt sich der ansonsten leere Raum in keiner Sekunde als solcher an. Zu gut scheint das Ensemble zu verstehen, dass in einem solch schwierigen Rahmen die Kunst des Schauspiels in keiner Weise hinter die des Gesangs gereiht werden darf. Fantastisch interagieren u.a. Joseph Kaiser als Peter Grimes, Agneta Eichenholz als Ellen Orfort, Andreas Conrad als Bob Boles und Gieorgij Puchalski als John.
Cornelius Meister, Chefdirigent des RSO, scheint ein sehr inniges Verhältnis zu seinem Orchester zu haben. Er dirigiert die expressive Musik mit großem Enthusiasmus, freut sich über gelungene Soli sichtbar und lotst das orchestrale Schiff sicher in den Hafen. Joseph Kaiser brilliert vor allem in jenen Arien, in denen er innig und im Piano das Seelenleben und die Nöte von Grimes ausbreitet. Agneta Eichenholz agiert als desillusionierte Liebhaberin und geistige Schwester Grimes. Der Rolle der Ellen Orfort ist von Beginn an das Scheitern der Bemühungen um Peter Grimes auf den Leib geschneidert. Ihre burschikose Erscheinung in einem Anzug deutet nicht nur auf das wahre Verlangen ihres Vertrauten hin, sondern nimmt somit vor allem auch das aussichtslose Vorhaben eines Neustarts gleich zu Beginn vorweg. Musikalisch herrlich ist jene Szene, in welcher die Gemeinde in der Kirche versammelt ist, während Ellen in einer Arie Blessuren des jungen John betrachtet, die ihm Grimes zugefügt hat. Die Kirchenglocken und der Choral vermischen sich mit den Harfenklängen, welche den Gesang der Lehrerin unterstützen, zu einer höchst gelungenen Melange. Immer wieder ist es der berückende Sopran der schwedischen Sängerin, mit dem sie an diesem Abend gegen die Verrohung der Masse auftritt. Mit ihrer lyrischen, weder zu kräftigen noch zu feinen Stimme ist sie eine absolute Idealbesetzung.
Britten setzt an einer Stelle spätromantische Klänge ein, erinnert dabei sogar an Richard Wagner. Das Quartett, in dem die Frauen über ihr Schicksal sinnieren und zugleich klar machen, dass die Männer ohne ihre Hilfe, Hingabe und Liebe nicht bestehen können, wirkt sowohl musikalisch als auch dramaturgisch wie ein kleiner Fremdkörper in der ansonsten über viele Strecken beinahe holzschnittartigen, musikalischen Struktur.
Die von Thomas Wilhelm choreographierten Szenen verleihen der „wir werden ihn zerstören“-Stimmung des Stücks noch mehr Sprengkraft. Die pointierte Personenregie lässt den Mob in den großen Chorszenen wie eine wilde Horde Kannibalen erscheinen, denen der Antiheld Grimes wie auf einem Tableau präsentiert wird. Stark wirken die Bilder, in denen die Dorfbewohner Starenschwarm-förmig zusammenströmen, nur um Grimes dann doch als eine Art Wanderfalken stets auf Distanz zu halten. Um keine Überdosis zu erleiden, wird so das Gift „soziale Ausgrenzung“ das ganze Stück hindurch in wohl dosierten Einheiten verabreicht. In die Kategorie „schon oft gesehen“ fällt hingegen die Szene, in der diese gewissenhaft verabreichten Dosen ihre tödliche Wirkung entfalten. Grimes geht, auf Anraten des ehemaligen Kapitäns Balstrode (Andrew Foster-Williams) Selbstmord zu begehen, auf einen Erlösung symbolisierenden Lichtkegel zu und entschwindet auf die Hinterbühne.
Anklicken umPeter Grimes ist ein Gefangener der Gesellschaft – ein Gefangener seiner geächteten Begierden. Aus der Literatur geht hervor, dass Britten, selbst homosexuell, hier wohl autobiographische Elemente verarbeitet hat. Die aktuelle Inszenierung im Theater an der Wien bedient sich dieses homosexuellen Subkontextes ausgiebig und spielt an mancher Stelle in vielleicht etwas zu outrierter Art und Weise mit damit einhergehenden Klischees. Unter anderem, wenn etwa der Lehrling John in einem klatschnassen, engen weißen T-Shirt und Blue-Jeans das erste Mal auf Peter Grimes trifft und dabei ad hoc als sexuelles Objekt präsentiert wird. Oder wenn Teile des Herrenchores in Macho-Pose etwas unbeholfen und klischeebehaftet homoerotisches Aufreißverhalten an den Tag legen. Nichtsdestotrotz wirken die unter Verschluss gehaltenen homosexuellen Begierden sowohl von Peter Grimes als auch von Balstrode stets authentisch. Vor allem die Szenen mit Grimes’ letztem Lehrling John, ausdrucksstark dargestellt vom Tänzer Gieorgij Puchalski, sind an Intensität kaum zu überbieten.
Als interessanter Regieeinfall Christof Loys ist das Ende der Oper zu werten. Nachdem das Dorf über Peter Grimes gesiegt und ihn in den Selbstmord getrieben hat, wird mit Balstrode sogleich ein neues Opfer gefunden. Auf Grimes‘ Bett liegend, schart sich die Dorf-Gesellschaft nun traubenförmig um ihn und schwört sich mit Hilfe von Taschenlampen und deren greller Lichtkegel fast schon wie im Wahn auf ihr nächstes Opfer ein. Ein intelligenter Regieeinfall, der dem Werk zusätzlich Aktualität verleiht. Abermals sind es die Flöten und Harfen, die das Rollen der Wellen versinnbildlichen und zugleich die Unendlichkeit des Geschehens verdeutlichen.
Weitere Termine auf der Website des Theater an der Wien.