Der Missbrauch wurde einbetoniert“
Der Autor Christian Füller hat sein Buch „Sündenfall“ über den Missbrauchs-Skandal an der Odenwaldschule veröffentlicht. In einem Interview berichtet er über seine Gespräche mit Opfern und kritisiert den mangelnden Aufklärungswillen der Schule.
Die Odenwaldschule landete wegen eines Missbrauchsskandal in den Schlagzeilen. (Bild: Getty)
Herr Füller, über sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule wurde schon so viel geschrieben. Was haben Sie für Ihr Buch „Sündenfall“, das soeben erschienen ist, herausgefunden?
CHRISTIAN FÜLLER: Der hochprominente Schulleiter Gerold Becker war kein Einzeltäter. Eine ganze Gruppe von Männern hat sich schon Ende der 1960er Jahre in der Odenwaldschule versammelt. Unter dem Rektor Becker wurde das Missbrauchssystem dann perfektioniert – bis hin zu einem Verteilsystem für hübsche Jungs, das zwei Lehrerinnen in meinem Buch erstmals schildern.
Bewerten Sie die Reformpädagogik jetzt anders als früher?
FÜLLER: Absolut. Die Grundidee ist, wie die Reformpädagogen es selber nennen, „die Pädagogik vom Kinde aus“. Die hat historisch ihre Berechtigung – aber als Ideologie der Nähe zwischen Lehrer und Schüler gibt es da ein echtes Problem.
Und zwar?
FÜLLER: Die Reformpädagogik reißt die Mauer zwischen Schüler und Lehrer ein. Das darf man nicht tun, ohne etwas anderes dazwischenzustellen: Professionalität, Supervision, den Schulstoff – was auch immer das dann genau sein mag, aber diese Nähe zwischen Lehrer und Schüler muss beherrschbar bleiben. Das war an der Odenwaldschule nicht mehr der Fall.
Können Sie ein Beispiel nennen?
FÜLLER: Zum Beispiel wurde das Familienprinzip blind von der „Freien Schulgemeinde Wickersdorf“ in Thüringen übernommen – obwohl der Zweck der Internatsfamilie in Wickersdorf die Knabenliebe war, also der sexuelle Missbrauch.
Die Idee war, die bürgerliche Familie zu ersetzen durch einen Mann, der Knaben heranzieht zu einem geistigen und sexuellen Leben. Im Odenwald hat man sogar die Häuschen nach diesem Prinzip errichtet. Der Missbrauch wurde dort gewissermaßen ins Fundament miteinbetoniert.
Sie kritisieren die Aufklärungsbereitschaft der Reformpädagogen
FÜLLER: Ein Jahr, nachdem alles publik geworden ist, wird in reformpädagogischen Kreisen immer noch die Frage gestellt: Kann man das denn wirklich alles glauben? Ein sehr wichtiger Reformpädagoge sagte mir, es sei wichtig, auch die Täter zu verstehen. So ein Pädophiler sei ja richtig arm dran.
Warum sperren sich Menschen, die nicht unmittelbar etwas mit den Missbrauchsfällen zu tun haben, gegen die Aufklärung?
FÜLLER: Die Reformpädagogen leben seit jeher in dem Glauben, das bessere Konzept zu haben. Sie erklären die Staatsschule zu einer Lernfabrik, die Seelenmorde betreibt. Das stimmt – als Karikatur.
Aber die Reformpädagogen glauben ganz fest an dieses Zerrbild. Zudem müssten diese Menschen sich jetzt komplett hinterfragen, weil sie ihr ganzes Leben lang Reformpädagogik gepredigt haben.
Was müsste sich ändern?
FÜLLER: Der Sündenfall war sowohl in den katholischen Schulen als auch im Odenwald so groß, dass man nicht allein auf Selbstreinigungskräfte hoffen darf. Es braucht eine Instanz, die den Schulen auf die Finger guckt. Im Odenwald lehnten die Lehrer noch in den 2000er Jahren die Position eines Heimleiters ab! Jeder konnte also in seiner Internatsfamilie machen, was er wollte.
Können Sie der Reformpädagogik trotz allem noch etwas abgewinnen?
FÜLLER: Ja, es gibt viele wichtige Impulse. Ich habe im letzten Jahr ein Buch über Privatschulen geschrieben. Da erkennen Sie: Überall, wo eine Schule wirklich gut ist, speist sich das aus zwei Impulsen: Die Schulen haben den Anspruch, sich gezielt um jedes einzelne Kind zu kümmern. Und es wird nicht mehr im 45-Minuten-Takt unterrichtet. Beides ist gleichermaßen sinnvoll und wichtig.
War die Arbeit belastend?
FÜLLER: Ich war mehrfach kurz davor aufzugeben. Weil ich nicht mehr konnte vor diesem Abgrund und vor den widerlichen Vorwürfen, die man den Nachfragenden macht. Einer der besten Journalisten des Landes hat sein Buch über die Odenwaldschule wohl deswegen nicht zu Ende geschrieben.
Wurden Sie angefeindet?
FÜLLER: Teilweise bin ich mir bei der Recherche vorgekommen wie bei der Mafia. Ich will nicht übertreiben, niemand hat mich mit der Waffe bedroht. Aber es ging bei der Recherche stets um Sex, Gewalt, Drogen, Korruption – und viele Beteiligte haben gelogen und sogar subtil gedroht.
Sie können sich nicht vorstellen, was bei der späteren Autorisierung an Zitaten alles rausgestrichen wurde – selbst anonyme Passagen. Das eigentlich Belastende aber ist, dass man ständig angefeindet wird. Man wird zum Täter erklärt. Die Leute verbreiten Gerüchte, dass man selbst missbraucht habe oder Opfer von Missbrauch gewesen sei. Gleichzeitig ist eine solche Recherche wahnsinnig intensiv. Ich habe über Monate hinweg jeden Tag mit Menschen geredet, die von sexueller Gewalt betroffen waren. Und da ging es nicht mehr um Recherche.
Es sind persönliche Beziehungen zu den Betroffenen entstanden?
FÜLLER: Ja, ich habe ganz wunderbare Menschen kennengelernt, die ich mag und deren Mut ich beeindruckend finde. Wenn Sie mit jemandem über vier, sechs, acht Stunden ein Gespräch führen, das immer wieder unterbrochen werden muss, weil der Gesprächspartner nicht mehr kann, kommen sie in eine quasi-therapeutische Situation. Wenn Sie mit jemandem so etwas durchlebt haben, dann haben sie immer Zeit für ihn. Alles andere wäre Betrug.
Wie geht die Schule heute mit den Opfern um?
FÜLLER: Schlecht. Die betroffenen Odenwaldschüler werden aus der Schule heraus beschimpft, dass sie diejenigen sind, die den Schmutz bringen.
Ein Vorstand des Trägervereins etwa sagte, es brauche jetzt eine „Normalisierung des Dialogs“ mit den Opfern.
Mit anderen Worten: Die Opfer sind nicht normal, die sind nicht ganz richtig im Kopf, weil sie ständig Aufklärung und Wiedergutmachung wollen. Der Mann hat nichts kapiert!
Er sagt nicht etwa, das Problem ist der ehemalige Schulleiter Gerold Becker, der 86 Jungs – nach jetziger Zählung – missbraucht hat. Schuld seien vielmehr die Opfer, weil sie keine Ruhe geben. Das ist ungeheuerlich.
Das Gespräch führte Kerstin Meier
Quelle: Kölner Stadtanzeiger Online 18.03.2011http://www.ksta.de/html/artikel/1300359398196.shtml
Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt