Das eingebildete Blatt Paier (A4)

Von Lukas Röthlisberger @Adekagabwa

Es war einmal ein weißes Blatt Papier, das war etwas eingebildet, und wollte nicht nur für Notizen dienen, auch nicht nur für eine einfache Zeichnung oder für eine Geschichte, sondern nur für etwas wirklich wertvolles. Das Blatt Papier war etwa in der Mitte eines dicken Stapels mit andern Blättern. Die sahen alle genau gleich aus, aber für unser Blatt Papier war da natürlich ein großer Unterschied.

Das Blatt hieß Rubin. Es überlegte sich oft, weshalb man es wohl in der Papierfabrik auf den Namen Rubin getauft hatte, aber er kam nicht darauf. Rubin war überzeugt, dass Namen eine tiefere Bedeutung haben. Hieß zum Beispiel ein anderes Blatt Peter, so kam das von „Petrus“ – dem Wort für Felsen, und das bedeutete, dass dieses Blatt einen Starken Charakter, wie ein Fels in der Brandung, hatte.

Der dicke Stapel Papier mit Rubin in der Mitte war in einem Schrank, und dieser stand im Lehrerzimmer einer Mittelschule auf dem Lande. Immer wenn jemand die Schranktür öffnete, konnte Rubin mit seiner Schmalseite aus dem Türspalt hinausblicken und sah dann über Pfeifen rauchende, bärtige Lehrer hinweg, vorbei an Kaffee trinkenden und plaudernden Lehrerinnen, durch das Fenster hinaus auf eine grüne Wiese mit Kühen und dahinter erkannte Rubin flüchtig einen bewaldeten Hügel aus dem zuoberst ein Fernsehturm hervorlugte.

Nun, der Stapel über Rubin wurde immer kleiner. Über die Tage machte halt immer wieder mal jemand den Schrank auf, und entnahm einen kleinen Stapel weißer Blätter. Kaum eines dieser Blätter bekam Rubin je wieder zu Gesicht. Aber das störte Rubin nicht, denn schliesslich war er zu etwas besserem ausersehen, schon von Geburt an. Was das normale Fussvolk so tat, interessierte ihn nicht. Ein einziges mal kam ein Stapel Blätter zurück. Sie waren bunt vollgemalt und lagen in einer dicken Plastikmappe. Rubin fand das irgendwie eklig. Aber die Blätter waren recht vergnügt und unterhielten sich laut miteinander, sodass die Lineale im Schrank mehrmals um Ruhe pfiffen, denn die Lineale mochten keine Unordnung und sie waren zudem sehr zahlreich.

Es kam, wie es kommen musste: irgendwann wurde auch Rubin aus dem Kasten geholt. Aber nicht mit der ihm eigentlich gebührenden Ehre, ohne Musik und roten Teppich, einfach so als Bündel, mit fünf Blätter unter sich und fünfundzwanzig über sich. Ein älterer Lehrer hielt den Bündel zwischen seinen Fingern und schwenkerte ihn im Gang, sodass es Rubin fast schlecht wurde, und dann legte er die Blätter in irgendeinem Klassenzimmer unsanft auf sein Pult.

Der Lehrer hielt eine Unterrichtseinheit über Gesteinsarten und erwähnte auch die sogenannten Edelsteine, Smaragd, Rubin etc. Und teilte dann die Blätter aus, für einen kleinen Test – aber Rubin wurde nicht gebraucht. Er lag jetzt zuoberst auf dem kleinen verbleibenden Häufchen Blätter. Aber wie stolz er war. Er hatte es doch geahnt. Er war etwas Besonderes, er wurde nach einem Edelstein genannt – unvorstellbar. Und jetzt war er tatsächlich zuoberst, der große Star, und er blickte an die Decke, schielte an die Wandtafel, in die Klasse, aus dem Fenster, und einmal legte der Lehrer seine schwere, haarige Hand auf ihn, das fand er entwürdigend.

Die Stunde war vorbei, die Klasse stürmte hinaus, der Lehrer ging -  und nur ein Mädchen putzte noch die Notizen von der Wandtafel. Nachher setzte sich das Mädchen auf den Lehrerstuhl und guckte mit hochgerecktem Näschen in das leere Klassenzimmer. Und dann nahm es mit spitzen Fingern Rubin, und faltete ihn vor und zurück, und drehte ihn, und faltete ihn erst der Länge nach dann schräg … Rubin hielt die Luft an. Das war jetzt sein großer Moment, jetzt wurde er benötigt, jetzt stellte er sein Blatt.

Das Mädchen ging mit Rubin in der Hand zum Fenster, öffnete es weit, wippte Rubin in der hoch ausgestreckten Hand und warf ihn weit in die Luft. Er flog pfeilgerade, wurde vom Wind getragen, war berauscht vom Leben, voller Glück, dann drudelte er auf die Wiese runter.

Ein Teil vom Papierflieger wurde von einer Ziege gefressen, der Rest durch den Regen aufgeweicht und dann von allerlei Bodenlebewesen zersetzt.