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Sicherlich schreibt die Internetseite „weltonline“ in ihrem gestrigen Leitartikel zu Recht, dass Juristen gerne einmal damit kokettieren, dass man nach Gerechtigkeit suche, aber Recht fände.
Justizsystem: In Deutschland ist Recht nicht gleich Gerechtigkeit – Nachrichten Debatte – Kommentare – WELT ONLINE.
Doch trotzdem, manchmal ist es bei mir kein Kokettieren mehr, sondern durchaus ein Stück weit Verzweiflung, wenn ich sehe, wie die Rechtsstaatlichkeit in Theorie und Praxis auseinanderfallen.
Ein Beispiel hierfür ist das Verhalten der Barmer GEK, immerhin einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, in Bezug auf den elektronischen Kostenvoranschlag – aber auch die Reaktionen der Interessenvertreter der Leistungserbringer im Gesundheitswesen auf dieses einseitige Vertragsdiktat zu Lasten der Betriebe.
Jeder Interessierte und Betroffene kennt den Hintergrund: Barmer GEK und Techniker Krankenkasse (TK) setzten aufgrund ihrer Marktmacht im letzten Jahr einen Versorgungsvertrag durch, der zum einen den elektronischen Kostenvoranschlag ab 2011 zwingend vorschrieb, zum anderen nur einen einzigen Leistungsanbieter für diesen eKV zuliess. Dieser Leistungsanbieter wiederum verlangte nicht unerhebliche Gebühren, die – natürlich – in vollem Umfang durch die Betriebe des Gesundheitshandwerks zu tragen waren.
Die Europäische Union rügte diese Vertragsgestaltung ausdrücklich als nicht europarechtskonform und die Krankenkassen mussten sich unter diesem massiven Druck dazu verpflichten, binnen 2 Jahren europarechtskonforme Regelungen zu treffen.
Nun, man hätte meinen können, dies hätte diese Körperschaften des öffentlichen Rechts wenigstens dazu bewogen, das letztendlich rechtswidrige Verfahren zunächst einmal auszusetzen oder aber auf Freiwilligkeit umzustellen – aber weit gefehlt, in panzerartiger Unbelehrbarkeit bestanden die Krankenkassen auf der Umsetzung des massiv beanstandeten Systems.
Dann kam das Rundschreiben des Bundesversicherungsamtes (BVA) vom 28.12.2010.
Und dort heisst es zur Frage des elektronischen Kostenvoranschlags:
- Elektronische Kostenvoranschläge hingegen können nicht einseitig durch die Krankenkassen verlangt werden, ebenso können die Krankenkassen nicht einseitig einen Anbieter vorschreiben oder Rechnungskürzungen vornehmen, wenn nicht aufgrund eines eKV geliefert wird.
- Die einseitige Belastung der Leistungserbringer mit den Kosten eines elektronischen Kostenvoranschlags benachteiligt diese unangemessen – und zwar jede einseitige Belastung, egal, in welcher Höhe!
Klar, eindeutig, unmissverständlich: das Verhalten der Barmer GEK und der TK in Bezug auf den eKV ist nach Auffassung der Aufsichtsbehörde unzulässig und damit letztendlich: rechtswidrig!
Nun, die TK immerhin reagierte angemessen und setzte nach Brancheninformationen die Verpflichtung zur Nutzung des eKV zunächst aus. Dies ist jedenfalls meine bisherige Kenntnis, warten wir ab, ob es sich bestätigt.
Doch in jedem Fall anders die Barmer GEK – und ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts handelt, von der ich – immerhin als Organ der Rechtspflege auch dem Rechtsstaat und dem Schutz der Gesetze verpflichtet - eigentlich ein noch höheres Mass an Achtung des Rechts verlange als von irgendeiner privatwirtschaftlich organisierten Heuschrecke: die Barmer GEK verstieg sich zu derAuffassung, dass es keinen Grund gebe, die bestehenden Verträge in Frage zu stellen oder anzupassen. Das gelte auch für die vertraglich geregelte Verpflichtung zum Einreichen von elektronischen Kostenvoranschlägen (eKV). Der Vertragspartner habe dies durch seine Unterschrift akzeptiert. Zudem gehe aus dem Schreiben des BVA hervor, dass vertraglich vereinbarte Regelungen aufsichtsrechtlich nicht zu beanstanden seien.
Das ist schon eine Art und Weise, mit den Vorgaben nicht nur der Europäischen Union, sondern auch der eigenen Aufsichtsbehörde umzugehen, die man eigentlich nur mit einem Wort beschreiben kann: dreist!
Aber wenn ich jetzt geglaubt und gehofft habe, die Interessenverbände der Leistungserbringer würden hiergegen Sturm laufen, dann musste ich leider feststellen, dass niemand sich über dies Verhalten sonderlich erregt; im Gegenteil, die Betriebe wurden auch noch ausdrücklich und mehrfach darauf hingewiesen, dass sie diese unzulässige und europarechtswidrige Auflage, die für sie mit erheblichen zusätzlichen Kosten verbunden ist, umsetzen müssen. Und – natürlich (?) – wurden die bestehenden Verträge bis zum heutigen Tage nicht angezweifelt, geschweige denn aufgekündigt.
Hilflos stehen die Leistungserbringer diesem Possenspiel gegenüber: ich habe in den letzten Tagen viele Anrufe von Leistungserbringern erhalten, die jetzt die Verträge aufkündigen und mit den betroffenen Krankenkassen in eigene Vertragsverhandlungen eintreten wollten – sie hätten doch schliesslich das Recht dazu…
Ich habe sie davon abhalten müssen, denn machen wir uns nichts vor, was will ein Betrieb allein gegen die Marktmacht der Kassen, verbunden nicht nur mit der fehlenden Unterstützung seiner Interessenverbände, sondern letztendlich sogar gegen deren Zielrichtung erreichen? Er mag sich ja gerne mit einem eigenen Vertragsvorschlag, der den Vorgaben des BVA entspricht, an die Körperschaften des öffentlichen Rechts wenden – seine Chancen, dort einen annehmbaren Vertrag zu erreichen, schätze ich doch eher gering ein, so wie man sich dort auf Kassenseite derzeit gebärdet. Und dann? Dann steht er ganz ohne Vertrag da und erleidet die zusätzlichen finanziellen Nachteile durch die Umleitung seiner Kunden zu Betrieben, die sich dem Diktat der Kassen unterworfen haben.
Ich will durchaus nicht verschweigen, dass ein Interessenverband mit mir zusammen einen fairen, ausgewogenen und den Vorgaben des BVA entsprechenden Vertragsvorschlag erarbeitet hat, und dass dieser Vertragsvorschlag auch ergänzt ist um akzeptable Anlagen sowie konkret kalkulierte, für beide Seiten wirtschaftliche Preismodelle. Nur fehlt es eben mit Ausnahme einiger weniger Verbände und Gemeinschaften derzeit offensichtlich am Willen, in konkrete Vertragsverhandlungen mit den Kassen um solche neuen Verträge einzutreten. Und solange nur ein paar wenige Betriebe und einige Verbände aufbegehren, werden die Krankenkassen ihr Diktat fortsetzen – da helfen alle schönen theoretischen Erwägungen der Aufsichtsbehörde überhaupt nichts.
Mich macht dies betroffen und traurig.