Es gibt im Laufe der Jahre, in welchen man viele Theater- und Opernaufführungen rezensierte, einige wenige, die lebhaft in Erinnerung bleiben. „Dit is mejn vader“ im Jahr 2010 war eine solche, die ich in Strasbourg anlässlich des Festival Premières sah – eine Bestandsaufnahme des jungen Regisseurs und Schauspielers Ilay de Boer seines Lebensgefühls als Jude in den Niederlanden. Eine emotionale Hochschaubahn für das Publikum, das plötzlich Theater und Realität nicht mehr zu unterscheiden mochte. „Macbeth“ in einer Inszenierung von Brett Bailey, derzeit zu Gast bei den Wiener Festwochen, ist – und das weiß man, wenn man noch in der Aufführung sitzt, eine ebenso Erinnerungswürdige. Vielleicht kein Zufall, dass beide Regisseure eine holländische Regieausbildung genossen haben. Dort scheinen die Uhren doch wesentlich anders zu ticken als im deutschsprachigen Raum.
Owen Metsileng als Macbeth Nobulumko Mngxekeza als Lady Macbeth (Foto: Nicky Newman)
Bailey, seit 2005 immer wieder bei den Wiener Festwochen, widmet sich in seiner Interpretation des Spieles um Gier nach Macht und Schuld dem krisengebeutelten Kongo. Einem Land, in dem in den letzten Jahrzehnten mehr als fünf Millionen Menschen infolge der militärischen Umstürze den Tod fanden. Einem Land, das aufgrund seines immensen Reichtums an Bodenschätzen zum Fressen für mehrere Großkonzerne wurde. Einem Land, in dem die Grausamkeiten von einem Machthaber zum nächsten nicht abnehmen. Einem Land, in dem viele Buben von Kindheit an zu Killermaschinen erzogen werden. Der Theatermacher, der in Südafrika, genauer gesagt in Kapstadt wohnt, wurde bereits vor 12 Jahren gebeten, mit Studierenden eine Oper zu erarbeiten und da er keinerlei Ahnung von diesem Genre hatte, war sein erster Griff damals zum Konversationslexikon. Die Inhalte, die antiken Ursprungs waren und mit Göttern und Helden aufwarteten, waren nicht seine, aber Macbeth sprang ihn von Beginn an ins Auge. Tatsächlich sollte es zwei weitere Inszenierungen später erst zu jener Arbeit kommen, die nun rund um die Welt tourt und in Österreich, nach Belgien, seinen zweiten Stopp auf dem Kontinent erfährt.
Macbeth, herausragend stimmgewaltig dabei hoch lyrisch vom erst 26jährigen Owen Metsileng gesungen, präsentiert sich als stämmiger afrikanischer Militär mit feuerbereitem Gewehr, dem die drei weißen Hexen eine Zukunft als König voraussagen. Diese angsteinflößenden Nachtgestalten zeigen sich als weiß behelmte, Anzug tragende Konzernvertreter, vermummt und mit Handschuhen versehen, und wie sich im Laufe der Handlung noch zeigen wird – sind sie im Land omnipräsent. „Hexagon“ nennt sich ihre Firma, in deren Auftrag sie sich nicht scheuen, die Menschen des Landes bis auf den letzten Blutstropfen auszubeuten. „Es gibt mehrere Firmen, nicht nur eine, die den Kongo fest im Griff haben“ berichtete Bailey im Publikumsgespräch, aber er hätte keine der Bekannten namentlich nennen wollen, ohne mit Verfolgung gerechnet haben zu müssen. So taucht das Hexagon als Stellvertreter als jener Konzerne immer wieder während der einzelnen Akte auf und macht die Verflechtung der unsäglichen Politik zur Weltwirtschaft deutlich. Die Figur des Macbeth ist bei Bailey deutlich menschlicher angelegt, als das auf den ersten Blick vielleicht fassbar wird. Seine Anhänglichkeit zu Banquos Vater – jenem General, den er auf Geheiß seiner Frau im Bett ersticht – kann er deutlich zum Ausdruck bringen. Und auch das Ende Banquos selbst durch die Hand Gedungener gerät bei ihm zum tiefsten Schmerz. „Es gab eine tatsächliche Vorlage zu dieser Figur“ erläuterte Bailey, „einen jungen Mann, der jetzt in Südafrika lebt, als Junge verschleppt worden war, zur Killermaschine erzogen und unter Drogen gesetzt, um zu töten. Er musste sogar gegen sein eigenes Dorf vorgehen in das er nie mehr wieder zurückkehren wird können.“ So zeigen sich – nicht nur in den Erklärungen des Regisseurs, sondern vor allem auch in den Fotos, die die Szenerie begleiten – jene Mechanismen, die Menschen zu Bestien machen. Auf einem dieser Bilder ist ein kleines, am Kopf verbundenes Mädchen zu erkennen. Dahinter ihre Mutter, einarmig, einen Säugling an ihrer Brust. Es sind Prägungen wie diese, die man sich für Lady Macbeth denken könnte. Zu Beginn arbeitet sie als Angestellte in einem Waschsalon und träumt von einem Leben im Luxus – einem Leben das ihr tatsächlich mit der Machtübernahme ihres Mannes auch zuteil wird. Nobulumko Mngxekeza singt die schweren Arien nicht nur berauschend schön, sondern mit einer ganz eigenen Magie und Stärke. Die zu Beginn von ihr nur erträumten roten Schuhe materialisieren sich rasch ohne jedoch jene ersehnte Freiheit zu bringen als deren Sinnbild sie Lady Macbeth galten. Der Aufstieg von der Wäscherin zur Diktatorengattin ist kometenhaft, der Absturz aber ebenso. Klug fädelt Bailey ein Requisit ein, das sie bis an ihr Ende begleiten wird. Ihre Waschschüssel hat von Beginn bis zum Schluss verschiedene Aufgaben zu erfüllen und steht sinnbildhaft dafür, dass man in ihr zwar Wäsche aber keine Schuld reinwaschen kann. Immer verführerisch und jederzeit bereit, ihren Mann skrupellos zum Machterhalt weiter zu beeinflussen ist Mngxekeza in ihren vielen Erscheinungsarten so etwas wie der „Star“ des Abends. Wenngleich es gerade die Absenz eines großen Namens ist, die diese Produktion so besonders macht. Die Auswahl der insgesamt 10 Sängerinnen und Sänger erfolgte in Kapstadt durch eine Audition aus den fünf dort angesiedelten Opernstudios. Es ist kaum zu glauben, dass keine und keiner der Singenden eine langjährige Bühnenerfahrung vorweist. Auch nicht Otto Maidi, der Macbeth als Banquo mit geschmeidigem Timbre zu Beginn noch zur Seite steht. Aber nicht nur die Einzelleistung der Angeführten, der Chor insgesamt überzeugt durch eine Stimmfülle, die nach wesentlich mehr Besatzung klingt. Verantwortlich dafür ist aber auch Fabrizio Cassol, der in bewundernswerter Weise Verdis Oper um eine ganze Stunde kürzte und während dieser Zeit noch einige eigene musikalisch Einsprengsel unterbrachte. Seine behutsamen Eingriffe holen die Musik ins Hier und Heute ohne den Arien und Chorpartien auch nur einen Ton zu rauben. Das No Borders Orchestra unter Bremil Petrovic spielt klanglich so differenziert, wie es die Partitur erfordert. Von klassisch begleitend bis hin zu expressiv solistisch. Es ist eine Freude zuzusehen, wie sehr die jungen MusikerInnen, allesamt aus den unterschiedlichsten Staaten Ex-Jugoslawiens, die sich bis heute seit dem Krieg teilweise spinnefeind sind, miteinander musikalisch harmonieren und streckenweise dabei unglaublich Spaß haben. Das No Borders Orchestra folgt der Idee von Daniel Barenboims West-East Divan Orchestra und möchte Menschen zusammenführen, die ohne die Musik nicht zusammengekommen wären. Der Kampf gegen Nationalismus, Rassismus, Homophobie und Fremdenfeindlichkeit und die Hinterfragung der glorifizierten nationalen Vergangenheit ist Motor des Klangkörpers. Passend zu Baileys Macbeth-Interpretation, die von SängerInnen interpretiert wird, von welchen keine und keiner ohne schmerzhafte Verbindungen in den Kongo sind. Tränen, die nach dem Abschlachten des Banquo-Clans auf der Bühne vergossen werden, sind hier leider zu oft noch echte.
Die Bühne selbst ist in drei Sektionen unterteilt. Links agiert der Chor, mittig, auf einem ca. 5×5 Meter hohen Podium, die Solisten und rechts davon das Orchester. Besondere Stimmung kommt von der geschickten Lichtregie, für die ebenfalls Bailey selbst zuständig ist. Blutrot, wenn es um das Eintauchen in abscheulichste Verbrechen geht, grün, wenn der undurchdringliche Dschungel imitiert wird, kaltes Weiß erstrahlt nach Lady Macbeths Tod. Wenige, dafür umso eindringlichere Requisiten prägen die Bühne: Aufgepfählte Totenschädel, die geballte, rote Faust, die Macbeths Kopf bekrönt, einige wenige persönliche Habseligkeiten wie Schuhe und T-Shirts, die verstreut auf dem Boden liegen und während einer ergreifenden Lamento-Arie geordnet werden. All das changiert genauso zwischen Kunst und Realität, wie es die Aufführung an sich tut. Und darin liegt auch ihre enorme Stärke. Die Verbindung von Verdis und Cassols Musik mit aktuellen politischen und human-desaströsen Ereignissen in Afrika raubt den Atem und öffnet die Seele. Sie macht empfänglich für das Leid, das hier tagtäglich noch stattfindet und vor dem jeder seine Augen verschließen möchte. Bailey legt den Finger ganz tief in die Wunde des Herzen von Afrika und präsentiert uns saturierten, kulturhungrigen Europäern diese blutige Operation in der Verkleidung einer klassischen Oper. Damit erreicht er – und das ist ihm bewusst – tausend Mal mehr Menschen als mit einem reinen Betroffenheitstheater. Er sprengt mit dieser Verschränkung nicht nur Grenzen der Kommunikation, sondern auch solche des Musiktheaters und zeigt, was heutzutage möglich ist. Nicht die reine Freude am Kunstgenuss ist es, die ihn antreibt. Sondern vielmehr die zutiefst humane Aussage, dass man dort helfen muss, wo es gerade am schlimmsten ist und wo die Menschen Hilfe brauchen.
Minutenlange Standing Ovations zeigten ihm und seinem Team im Saal des Odeons in Wien, dass er auf dem richtigen Weg ist. „Ich weiß nicht, ob ich etwas verändern kann. Aber zumindest weiß ich, dass es immer einige aus dem Publikum gibt, die nach der Vorstellung nach Hause gehen und zu googeln beginnen. Sie schauen nach, was da tatsächlich im Kongo passiert – ich denke, damit hab ich schon viel gewonnen.“ Allerdings Herr Bailey!