(Vincent Deeg)
„Nun los, nun mach doch.“ Rief Helmut, der sich bereits in Sicherheit befand seinem Freund Peter zu. Er war trotz der auf sie abgegebenen Schüsse auf die damals noch aus grob zusammengefügten Hohlblocksteinen bestehende Mauer gesprungen, die letzte Hürde, die ihn noch von der Freiheit trennte, hatte sich durch den Stacheldraht gezwängt, mit dem deren Krone versehen war und sich, kaum dass er die sichere West-Berliner Seite erreicht hatte auf dem Boden fallen zu lassen.
Dort, von wo aus er nun vergeblich versuchte, Peter durch Zurufe zum Weiterlaufen zu bewegen. Vergeblich aus dem Grunde, weil derselbe junge Mann, der es nur ein paar Stunde zuvor kaum noch erwarten konnte, diesen Teil Deutschlands, diesen Ostsektor endlich zu verlassen plötzlich wie angewurzelt vor der Mauer stehen blieb, die Helmut gerade hinter sich gebracht hatte und sich, als wäre er zu einer Salzsäule erstarrt, nicht mehr bewegte.
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Ein paar Monate erst war es her, als die beiden Freunde, die als Maurergesellen auch Kollegen waren gemeinsam beschlossen, nach Westen-Berlin zu fliehen. Sie träumten von einem Leben in Freiheit. Von einer Welt, die nicht aus ständiger Bespitzelung, aus immer währender Ideologieberieselung und aus pompösen Appellen bestand, die die Partei der SED glorifizierten, sondern in der sie sich frei entfalten und ihr Leben selbst gestalten konnten. Eine Welt, die, als Peter und Helmut das erste Mal an diese Stelle kamen, der Zimmerstraße zwischen Markgrafen- und Charlottenstraße, dort, wo der Todesstreifen gerade mal 20 Meter breit war zum greifen nah schien.
Natürlich wussten sie, dass sie damit ein großes Risiko eingehen würden. Hatte es doch vor ihnen bereits mindestens 26 Menschen gegeben, die auf dem Todesstreifen rund um Berlin getötet wurden. An einer Grenzanlage, die zu dem Zeitpunkt, als Peter und Helmut ihren Entschluss fassten noch nicht einmal ein Jahr alt war. Eine erschreckende Tatsache, die die beiden Freunde jedoch nicht von ihrem gefährlichen Vorhaben abhalten konnte. Denn wie jeder andere vor ihnen und auch nach ihnen glaubten auch sie fest an sich und an das Gelingen ihrer Flucht.
Ein Fluchtgedanke, aus dem am 17. August 1962 Realität werden sollte. Als die beiden Freunde mit zwei anderen Kollegen eine Kneipe am Hausvogteiplatz besuchen um dort gemeinsam ihre Mittagspause zu verbringen. Als sie sich im Anschluss daran und mit Hilfe eines Vorwandes, sich noch Zigaretten kaufen zu wollen von den beiden Kollegen trennen und statt später zu ihrem Arbeitsplatz zurück kehren in Richtung Sperrgebiet gingen. Dort, wo direkt dahinter die Sperranlage der Sektorengrenze begann. Wo sie, in der Hoffnung, als Bauarbeiter nicht weiter aufzufallen eine Tischlerei in einem der Ruinengebäude an der Schützenstraße betraten, dass an ein anderes ungenutztes Haus an der Zimmerstraße grenzte, dessen südliche Fenster zum Todesstreifen hin noch offen und nicht vermauert waren. Fenster, durch die sie in einem günstigen Augenblick direkt in den Todesstreifen springen wollten um diesen, hoffend, von den Grenzpolizisten nicht entdeckt zu werden so schnell wie möglich zu überqueren.
Doch war es tatsächlich so einfach, sich ungesehen diese Sperranlage zu nähern oder gar diese mit einem schnellen Lauf zu überwinden? Waren die dort stationierten Grenztruppen wirklich so unfähig, ihren Grenzabschnitt zu bewachen oder jemanden als verdächtig zu erkennen, der sich, wie Peter und Helmut in diesem aufhielt?
Eine Frage, die aus der heutigen Sicht mit einem klaren „Nein“ beantworten werden kann. Denn abgesehen davon, dass diese Sektorengrenze, an der, wie bereits erwähnt schon im ersten Jahr mindestens 26 Menschen getötet wurden schon damals ein recht effektives Bollwerk darstellte, waren die dort Dienst tuenden Polizisten und Soldaten durchaus in der Lage, sowohl ihren Grenzabschnitt wirkungsvoll zu kontrollieren, als auch dessen direkte Umgebung entsprechend einzuschätzen.
Ein eindeutiger Beweis dafür ist unter anderem ein am selben Tage verfasster Bericht der Grenztruppen. In diesem wird nicht nur notiert, dass die beiden nichts ahnenden Freunde bereits gegen 12.00 Uhr mittags als auffällig entdeckt wurden, sondern auch, dass der Diensthabende Postenführer anordnete „zwei männliche Personen in Arbeitskleidung“ zu kontrollieren. Eine Kontrolle jedoch, die, weil die besagten verdächtigen Personen an einem Gemüseladen standen und Brause tranken nicht erfolgte.
Doch das ist nur einer der Beweise, die die Schärfe an dieser Grenze beschreiben. Viele weitere folgten, als Peter und Helmut, die auf Grund von Stimmen, die sich schnell ihrem Versteck in der Zimmerstraße näherten beschlossen, nicht mehr länger zu warten und den Sprung in den Todesstreifen zu wagen. Dort, wo es für die Grenzsoldaten, angefüllt vom täglich gepredigten Haas gegen den Westen und gegen jene, die in diesen fliehen wollen nur eine einzige Antwort gab. Wo ein junger Unteroffizier nicht lange zögert und aus einer Entfernung von etwa 40 Metern sofort das Feuer eröffnet.
Es ist derselbe Ort, an dem Helmut trotz des Kugelhagels entkommen konnte und an dem Peter, sei es, dass ihn diese Situation schockte, dass ihn die Angst lähmte oder vielleicht, dass er seine Flucht aufgeben wollte, für den Bruchteil eines Augenblickes regungslos stehen blieb und somit zu einem optimalen Ziel wurde.
Ein Bruchteil eines Augenblickes, der den Grenzsoldaten und Grenzpolizisten, die sich
mit dieser zu vermutende Aufgabe nicht zufrieden gaben, von denen sich einige bereits
in eine bessere Schussposition gebracht hatten ausreichte um den Flüchtenden unter den Augen seines Freundes und unter den Augen der auf der West-Berliner Seite immer größer werdenden Zahl geschockter und laut protestierender Zuschauer gnadenlos zusammen zu schießen.
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Ja. Vielleicht war es tatsächlich so, dass Peter kurz vor seinem Ziel aufgeben wollte. Oder, dass ihm seine heute nachvollziehbare Angst die Fähigkeit zum Handeln nahm. Vielleicht war es so. Vielleicht aber auch nicht. Wir werden es nicht mehr erfahren.
Denn Peter Fechter sollte diesen Tag, den 17. August 1962 nicht überleben. Nach einem Kugelhagel aus insgesamt 35 Schüssen, der auf ihn und seinen Freund abgegeben wurde und den ein späterer, nach der Wende gefundener Bericht der Staatssicherheit bestätigte, nach mehreren verzweifelten Hilfs- und nach ebenso vielen aber auf Grund der damals sehr angespannten Lage untersagten Bergungsversuchen der sich auf der West Seite befindenden US-Militärpolizisten und nach der fünfzig minütlichen Hilfeverweigerung der DDR Grenzer, die sich, aus Angst, von der West-Berliner Seite, auf die sie während der gesamten Zeit mit ihren Waffen zielten beschossen zu werden hinter ihren Deckungen verstecken endete Peters hoffnungsloser Überlebenskampf in seinem Tot.
Fünfzig Minuten, in denen man hinter der Sicherungsmauer, dieselbe, die sein Freund kurz zuvor überwunden hatte das schmerzvolle Stöhnen und die angstvoll flehenden Hilferufe des schwer verletzte Peter hören konnte. Fünfzig Minuten, nach denen diese Rufe für immer verstummten und deren Verursacher seinen tödlichen Verletzungen erlag.
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Erst kurz nach 15 Uhr kehren die DDR Grenzer aus ihrer Angststarre zurück. Sie werfen Nebelgranaten um den leblosen und Blut überströmten Körper ihres Opfers in deren Schutz abzutransportieren zu können.
Eine der Szenen, die der Bildjournalisten Bera, der damals nur zufällig an diesem Ort kam, der plötzlich Schüsse hörte und den eine alte Dame von einem Ost-Berliner Fenster aus mit einem Fingerzeig auf den hinter der Mauer liegenden Peter aufmerksam machte mit seiner Leica Kamera in einem Schnappschuss fest hielt.
Es ist das Bild, das um die Welt gehen sollte.
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Der Tod von Peter Fechter führte der westdeutschen Bevölkerung in zuvor unerreichter Deutlichkeit die Grausamkeit des Schießbefehls vor Augen. Auch von der Untätigkeit der Besatzungssoldaten waren viele enttäuscht. Unmittelbar nach dem Vorfall und in den darauf folgenden Tagen kam es zu mehreren Protestkundgebungen aufgebrachter West-Berliner, die teilweise nur durch polizeiliche Gewalt davon abgehalten werden konnten, zur Mauer vorzudringen. Ein mit sowjetischen Soldaten besetzter Bus wurde mit Steinen beworfen; US-amerikanische Militärangehörige wurden verbal und auch tätlich angegriffen.
Von einem US-Leutnant liegt die Aussage vor, auf telefonische Nachfrage von Generalmajor Albert Watson II, dem damaligen US-Kommandanten von Berlin, folgende Antwort erhalten zu haben: Lieutenant, you have your orders. Stand fast. Do nothing.
(Leutnant, Sie haben Ihre Anweisungen. Bleiben Sie bereit. Tun Sie nichts.)
Der Zugführer der DDR-Grenzsoldaten gab an, nicht eingeschritten zu sein, da er befürchtete, die auf der Westseite versammelten Polizisten würden auf die Soldaten schießen. In der Tat war nur drei Tage zuvor der DDR-Grenzsoldat Rudi Arnstadt an der innerdeutschen Grenze von einem westdeutschen Grenzbeamten erschossen worden, und auch der Tod des durch einen westdeutschen Fluchthelfer erschossenen DDR-Grenzers Reinhold Huhn lag erst einen Monat zurück.
Der Tod Fechters hatte auch folgenschwere Auswirkungen auf dessen Familie. Der Vater starb verbittert, die Mutter wurde psychisch krank. Über Jahrzehnte wurde die Familie von den DDR-Behörden schikaniert. So wurden sie immer wieder überwacht, ihre Wohnung durchsucht und Familienmitglieder mit Berufsverbot belegt.
Im Rahmen der juristischen Auseinandersetzung mit dem Fall durch die Justiz nach der Wende wurden zwei ehemalige Grenzsoldaten im März 1997 des Totschlags für schuldig befunden und zu Haftstrafen von 20 bzw. 21 Monaten verurteilt. Die Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Die beiden Männer hatten gestanden, Schüsse auf Fechter abgegeben zu haben, bestritten aber eine Tötungsabsicht. Der Prozess konnte nicht klären, ob der tödliche Schuss von einem der zwei Angeklagten oder einem dritten, zwischenzeitlich verstorbenen Grenzsoldaten abgegeben wurden.
Das Gericht urteilte weiter, dass Fechter durch die Schüsse und nicht auf Grund unterlassener Hilfeleistung gestorben sei.
(Quelle: wapedia.mobi)
Peter Fechters letzte Ruhestätte auf dem Friedhof der Auferstehungsgemeinde an der Indira-Gandhi-Straße ist als Grabstätte eines Opfers von Krieg und Gewaltherrschaft anerkannt.
Das Ehrengrab jedoch, für das sich der Bezirk Pankow eingesetzt hatte, wurde laut Informationen der "Berliner Zeitung" vom Berliner Senat mit einem Schreiben an das Bezirksamt Pankow und der darin enthaltenen Begründung, es würden nach geltenden Regeln nur Verstorbene berücksichtigt, "die besondere Verdienste um Berlin erworben haben und über Berlin hinaus hervorragende Leistungen vollbracht haben" abgelehnt.
Die Installation mit den Gedenkkreuzen an der Ecke Friedrichstraße/Zimmerstraße wurde nach einer Räumungsklage des Grundstückseigentümers am 5. Juli 2005 entfernt.
Diese Bilder, geschossen von einem DDR Fotografen und von der Staatssicherheit noch am selben Abend konfisziert wurden erst nach dem Fall der Mauer in den Unterlagen des MfS entdeckt und veröffentlicht.