Von Stefan Sasse
Aus irgendeinem Grund gilt es als eine notwendige Bedingung für Erfolg in politischen Spitzenämtern, dass er jeweilige Kandidat glaubhhaft als ein Durchschnittsmensch präsentiert werden kann. Zu jedem Wahlkampf gehört damit fast automatisch der Beweis, dass der jeweilige Kandidat "bierzelttauglich" ist, wie es in Deutschland gerne heißt, dass er oder sie an "normalen" Freizeitvergnügen teilaht (Stichwort Bundesliga) und bei der Frage nach dem Lieblingsessen irgendein Produkt der "gutbürgerlichen Küche" mit Lokalkolorit nennt, am besten von der Oma zubereitet. Angela Merkel ist hier etwas die Ausnahme von der Regel; sie hält ihr Privatleben weitgehend aus dem Politikbetrieb heraus und schwebt mehr über den Dingen. Aber bei ihr glaubt ohnehin niemand ernsthaft daran, dass sie einen allzu fein entwickelten Geschmack besitzt, dafür haben zahlreiche Bilder mit furchtbaren Frisuren und passenden Blusen aus den 1990er Jahren gesorgt. Nichts ist für einen Politiker verheerender, als als elitär zu gelten. Selbst der Inbegriff dieses Status', Karl Theodor Freiherr von Guttenberg, hat einen signifikanten Teil seiner Selbstdarstellungs-PR darauf verwendet, im AC/DC-T-Shirt im Feierzelt aufzutreten und von der Loveparade zu schwärmen, anstatt über die Vergnügungen von Theater, Oper und Essen im Ritz zu schwärmen. Das ist umso lustiger, als dass sobald ein Politiker glaubhaft solchem Vergnügen zugeneigt ist er mit Spott und Hähme überzogen wird; Helmut Kohl und Kurt Beck können davon ein Liedchen singen, und auch Gerhard Schröder hat man seinen Stallgeruch nie ganz verziehen.
Es scheint fast so, als ob die Öffentlichkeit über das Privatleben der Spitzenpolitiker noch konsequenter belogen sein will und dem Belogen werden mit einer ans Fetischafte grenzenden Lust fröhnt. Ein Politiker muss stets erklären, wie volksnah er doch ist, damit man dann heimlich über die plumpen Versuche lachen kann. Das Ergebnis ist eine Inszenierung von Mittelmäßigkeit, die dem Anspruch, mit dem höchste Staatsämter einhergehen in keinster Weise gerecht wird. Von Helmut Kohls Kassenmodell bei der Brille über Gerhard Schröders betont vulgären Ausflüge in Volkes Zunge zu Angela Merkels bürgerlichem Kleidungs- und Schmuckstil lässt sich diese Linie beständig verfolgen. Wirkt dieses Ritual bei uns schon oft genug reichlich lächerlich, so entspringt es doch wenigstens einer gewissen Wahrhaftigkeit, denn in Deutschland sind Politiker wenigstens manchmal aus niederen Verhältnissen aufgestiegen (wie im Falle Gerhard Schröders) oder entstammen doch zumindest kleinbürgerlichem Milieu. Wer aber beobachten muss, wie die republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den USA derzeit zu betonen versuchen, aus angeblich ärmlichen Verhältnissen zu stammen, der weiß nicht ob er lachen oder weinen soll. Wir reden hier von Mitt Romney, der ungefährt 250 Millionen Dollar besitzt, und Newt Gingrich, der zuletzt mehrere Millionen für seine Tätigkeit als "Historiker" für Fannie Mae einstrich!
Wahlstrategen zerbrechen sich über diese Inszenierung regelmäßig die Köpfe, und das nicht zu Unrecht. Wer auf diesen elementaren Teil seiner Selbstdarstellung verzichtet kann Wahlen verlieren. John Kerry musste dies 2004 erleben; die Wahlkämpfer um George W. Bush stempelten ihn mit durchschlagendem Erfolg zu einem Elitisten ab, der die Probleme des "average American" höchstens theoretisch kenne. Die Frage, mit welchem Kandidaten man eher ein Bier trinken würde, gilt neben der nach den Qualitäten des "strong leader" zu den wichtigsten, die in politischen Umfragen gestellt werden, und 2004 wollten die Amerikaner deutlich lieber mit Bush einen heben gehen als mit Kerry. Wer den Mann in den TV-Debatten bei Bushs holprigen Versprechern hat Grinsen sehen, der weiß warum.
In der Realität könnte man das "average guy"-Syndrom als eine alberne, vielleicht unterhaltsame Marotte des Politikbetriebs abtun, wenn sie nicht so profunde Konsequenzen hätte. Die Schizophrenie der Wähler in einer Demokratie kommt selten so klar zum Vorschein wie hier. Eigentlich sollte man den geeignetsten Kandidaten wählen, aber oft genug spielen merkwürdige, dumpfe und kaum reflektierte Vorurteile eine entscheidende Rolle, werden für die Mobilisierung der eigenen Anhänger genutzt wie in dem Spot "Der Kanz" von 2005. Bildung wird plötzlich von einem Vorzug zu einem Nachteil, der einem Kandidaten wie ein Mühlstein um den Hals hängt. Gleichzeitig ist genuine "Volksnähe" in ihrem banalsten Sinne ein Quell ständigen Spotts. Die Kandidaten werden so dazu gezwungen, eine Show ihrer eigenen Mittelmäßigkeit abzuliefern, weil sie sonst nicht gewählt werden, ständig auf einem schmalen Grat zwischen zu viel und zu wenig von dieser Inszenierung. Und wer jetzt denkt, dass dies ein Problem von Medialisierung sei, und dass ein kritischer Geist dagegen immunisierte: das ist ein Irrtum. Bereits Andrew Jackson machte im frühen 19. Jahrhundert Politik, indem er seinen Hinterwäldlercharme gegen die arrogante Kompetenz von John Quincy Adams ausspielte, und damals gab es weder Fernsehen noch Internet. Und wie oft lachen selbst wir darüber, wenn wieder einmal ein Politiker der Lächerlichkeit preisgegeben wird, und wie oft rümpfen wir die Nase, wenn sie nicht Goethe rezitieren können? Wie schnell sind wir mit dem Vorwurf bei der Hand, "die Politiker" verstünden von den Problemen der "kleinen Leute" nichts? Und wer möchte von einem Politiker vertreten werden, der ernsthaft gerade eben noch die Flure des Arbeitsamts durchwanderte? Der Wähler ist schizophren, und nirgends wird das so deutlich wie hier.