In einem Bücherantiquariat habe ich für drei Franken einen Brockhaus von 1922 gekauft. Das Buch ist schwer und riecht nach Dachstock, nach alten Schränken und der Zeit der Urgroßeltern. Mir gefallen die alten Kupferstiche drin, und die filigranen Skizzen, welche die Dinge zu erklären versuchen. Das Buch verarbeite ich Stück für Stück in meine Werke.
Die Seiten von diesem Brockhaus sind sandgelb, am Rande stärker als in der Mitte und viele Seiten zerbrechen wie dünnes Glas, wenn man nicht vorsichtig ist. Das Papier ist wohl aus kurzfaserigem Holz und die Chlordioxid-Bleiche war damals noch nicht erfunden. Mit Acryllack muss ich verstärken.
Wenn ich beim Ausschneiden den einen oder anderen Artikel lese, dann staune ich über jene Zeit. Da wird zum Beispiel der Bücherskorpion beschrieben, ein Spinnentier, das in Mitteleuropa im Bücherregal lebt und hinter den Büchern Büchermilben fängt. Oder es wird erklärt, dass der «Oberarzt» ein militärischer Rang ist, der im deutschen Heer 1898 eingeführt wurde. Weiter liest man, dass Neu-Mecklenburg eine deutsche Kolonie hinter Neuguinea war, die aber seit 1914 Neu-Irland heiße und nun leider den Engländern gehören würde.
Als dieser Brockhaus in die Buchhandlung kam, bekam Albert Einstein den Nobelpreis, wurde in der Sowjetunion Stalin Generalsekretär der KPdSU, in Irland begann der Bürgerkrieg, in Indien kommt Ghandi ins Gefängnis und in den USA hat ein Herr Samuelson das Wasserskifahren erfunden.
Das war vor 95 Jahren. Wie man wohl in 95 Jahren unsere heutige Welt auf den Punkt bringen wird? Welche staubigen Bücher werden im Jahr 2112 die Menschen an uns erinnern? Worüber werden sie schmunzeln? Und was wird bei ihnen nur noch verständnisloses Kopfschütteln auslösen?
Bild oben: „Fußgänger“ / 27cm x 39cm / Filzstift auf Zeichenpapier / Nr. 13-056
Alte Bücher und Gedanken aus früheren zeiten erscheinen mir wie Fussgänger. Sie rasen noch nicht.
Bild unten: Ein Multimedia-Resultat aus solchen Büchern, 12cm x 8cm