Das Recht auf freie Meinungsäußerung entstand nicht aus einem Impuls heraus, Meinung auch gegen wehrlose Gesellschaftsgruppen kundzutun. Es ist ein Kind der Furcht - einer Furcht, die man zuweilen vor der Macht haben musste und auch heute noch gelegentlich haben darf. Als es 1789 mittels der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in die menschliche Historie trat, sollte es die Menschen von der Angst befreien, bei abweichender Meinung sanktioniert zu werden. Endlich sollte der Staatsbürger seinen Herren nicht mehr nach dem Mund reden müssen; endlich sollte man, wenigstens theoretisch, widersprechen und andere Ansichten als sein Fürst, sein Minister, sein Dienstherr, andere Ansichten als Adel und Klerus haben dürfen. Und das ohne Angst vor Bestrafung.
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Die Meinungsfreiheit ist ihrem Ursprung nach ein Akt der Widerrede gegenüber den Machthabern. Und sie besitzt somit ein revoltierendes Charakteristikum - sie ist hingegen kein selbstgerechtes Privileg, welches man gegen jene anwenden kann, die sich aufgrund ihrer sozialen Stellung, ohnehin nicht zu wehren wissen, sich auch gar nicht wehren können. Eine Meinung zu verfechten, ohne Bestrafung zu fürchten: das war als die Befugnis des einfachen Mannes gedacht, auch einem hohen Herrn, der von Geburt aus bevorzugt wurde oder durch glückliche Fügung zu hohen Meriten gelangte, die Stirn bieten zu können. Das Recht auf freie Meinungsäußerung war von freibrieflicher Beschaffenheit - nach und nach erkannte man allerdings, dass dieser Freibrief eingeschränkt gehört, dass nicht alles als freie Meinung durchgehen könne, wenn man den gesellschaftlichen Frieden wahren möchte. Hier kommen etwaige Gesetze ins Spiel, die es nicht als Meinung gelten lassen, wenn man verleumdet, betrügt, arglistig täuscht.
Wenn also heute Agitatoren auftreten, um ihre schiefen Thesen zu predigen - lassen wir den Namen, der derzeit in aller Munde ist, aus Pietätsbezeugung vor diesen Seiten einmal unerwähnt -, danach bei entgegenschlagender Kritik von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit schwafeln, dann verbergen sie hinter ihrem Rechtsanspruch, dass sie die Meinungsfreiheit nicht gegen diejenigen anwenden, gegen die sie ersonnen wurde. Meinungsfreiheit war nie als Freibrief gedacht, dem Pöbel von der Straße frei die Meinung zu geigen: denn so ein Gebaren gab es vor einer postulierten Meinungsfreiheit schon - oder hätte es ohne zu befürchtende Konsequenzen gegeben, wenn damals davon regerer Gebrauch gemacht worden wäre. Der Schutz freier Meinung sollte sich gegen jene wenden, die die Macht besaßen, ohne mit der Wimper zu zucken, freie Meinung zu bestrafen. Der Bauer und Bürger, der Bettler und Alte war weit entfernt davon, eine solche Macht gegen jene anzuwenden, die mit ihrer "freien Meinung" gegen ihren bejammernswerten Stand wetterten und ihn verleumdeten.
Eine freie Meinung gegen gesellschaftlich ohnmächtige Schichten existierte faktisch schon, bevor 1789 das Recht auf Meinungsfreiheit gesetzt wurde. Als ein solches Recht auf das Tapet kam, sollte es ein Frontalangriff auf Klerus und Adel sein, deren Macht in Schranken weisen. Und nicht, wie man das dieser Tage aufzufassen meint, als Freiheit die Ohnmächtigen zu brüskieren, sie in ihrer Ohnmacht zu bestärken. Meinungsfreiheit heißt historisch betrachtet: standhaft gegen Herren sein zu dürfen. Jedoch nicht: Arbeitlosen, die sich gerichtlichen Schutz nicht bezahlen können oder ausländischen Mitbürgern, denen oft der Mut zur zielgerichteten Gegenwehr fehlt, mit hemmungsloser "freier Meinung" zu überziehen. Zweiteres geschah ohnehin immer, verächtlich gemacht wurden "die da unten" sowieso andauernd; es hätte nie einer Rechtsformulierung bedurft - es brauchte kein Recht, um in die Gosse zu treten und seine Meinung, egal wie unqualifiziert, dumm und verächtlich sie auch war, kundzutun. Es ist daher eine zielgerichtete Blendung, Meinungsfreiheit gegen die Schwachen und Wehrlosen zu instrumentalisieren, während der ursprüngliche Gedanke der Meinungsfreiheit, jener nämlich, der Macht die willkürliche Abstrafung zu verbieten, auch heute noch ein oftmals wackeres Vorhaben ist.
Die Meinungsfreiheit für sich in Anspruch zu nehmen, wenn man gegen Randgruppen aufwiegelt, ist ein unhaltbarer Zustand, eine Frechheit geradezu. Denn in bester Tradition dieses Rechts auf Meinungsfreiheit stehen jene, die sich heutzutage gegen die Omnipotenz der Wirtschaft und gegen deren Vasallen aus der Politik zur Wehr setzen. Da nimmt man die freie Meinungsäußerung in Anspruch! Beim Verhetzen gegen sozial Randständige übt man nur aus, was immer Usus, war nie bestrafenswert war: auf die Schwachen, auf die Wehrlosen zu treten und ihnen auch noch weismachen, man täte das im Namen der Wahrheit. Das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit gewährt aber das Gegenteil: es erlaubt auf das Meinungsmonopol der Mächtigen zu pfeifen, es anzugreifen, nicht abnicken zu müssen.