Es ist Morgen im französischen Viertel von Pondicherry. Im Gegensatz zum Rest der Stadt ist es hier aufgeräumt, ja geradezu herausgeputzt – und fast schon sonntäglich still. Nur von ferne hört man das Brodeln der indischen Stadt: vereinzeltes Hupen eines Lastwagens, das gezähmte Rattern eines Presslufthammers und ab und zu ein entfernter Ruf.
Ich bin eingeladen zum Darshan zu Ehren «der Mutter», die am Vortag Geburtstag hatte. Ein Darshan ist einer Art Sprechstunde bei einem Heiligen (Wikipedia: «segensreicher Anblick eines Gottes oder Heiligen»), in diesem Fall eben im Zimmer der 1973 verstorbenen Mirra Alfassa. Der eigentliche Darshan fürs Publikum fand am Vortag statt. Heute sind die Gebrechlichen und Behinderten eingeladen – eben auch ich. Denn das Zimmer der «Mutter» befindet sich hoch oben in einem der Hauptgebäude des Ashrams und ist nur über verwinkelte, teils halsbrecherische und enge Treppen erreichbar. Damit auch den Gebrechlichen und den Menschen mit einer Gehbehinderung der Segen der «Mutter» nicht verwehrt bleibt, stehen unzählige Studenten bereit, die entweder Unterstützung leisten oder Leute wie mich gar hochtragen. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen …
Die Gasse vor dem Seiteneingang ist mit schattenspendenden Tüchern überdacht: ein bunter, patchworkartiger Baldachin, der für angenehme Temperaturen sorgt. Darunter in der allergrössten Mehrzahl ältere bis sehr alte InderInnen, teils in vorsintflutlichen Rollstühlen, teils an Stöcken gehend oder am Arm einer Begleiterin, eines Begleiters. Die jüngeren Behinderten lassen sich an einer Hand abzählen.
Während die FussgängerInnen bereits anstehen, um Einlass zu bekommen, sind die RollstuhlfahrerInnen auf der gegenüberliegenden Strassenseite aufgereiht. Ich geselle mich – eher notgedrungen – zu ihnen und warte. Bald schon bin ich an der Reihe. Ich setze mich auf einen klobigen Holzstuhl, der für meinen Transport hergebracht wurde, und werde von zwei Studenten hochgetragen: zunächst durch einen belebten Innenhof des Ashrams, dann eine erste Treppe hoch auf eine weite Veranda. Verschnaufpause. Danach eine steilere Treppe hoch zu einer zweiten Plattform. Zum ersten Mal seit Wochen bin ich der Erdoberfläche enthoben. Ich geniesse den Blick über die Dächer der Umgebung und in die Weite der Stadt, fühle mich dem Himmel deutlich näher. Zur gleichen Zeit wischen sich die beiden armen Männer den Schweiss ab und erholen sich. Die letzten paar Stufen sind die schwierigsten. Sie führen verwinkelt und durch mehrere Engstellen ins Zimmer der «Mutter».
Auf der einen Seite steht ein breites Bett, darauf ein Bildnis der «Mutter», davor ein Schemel mit einem Paar Hausschuhen drauf. Überall stehen Vasen mit frischen Blumen. Das Zimmer scheint seit ihrem Tod unverändert. Auf der anderen Seite des Raumes sitzen etwa zwanzig Darshan-Gäste, die tröpfchenweise herein- und wieder hinausgetragen werden. Die Zeit ist knapp bemessen. Meine Nachbarin, eine ältere Inderin, protestiert zaghaft, als sie schon wieder hochgehoben wird – zu zaghaft. Auch ich bin bald wieder draussen, bekomme im Vorbeischweben noch einen Handzettel mit einem Zitat der «Mutter» in die Hand gedrückt und finde mich bald wieder in niedrigeren Gefilden, dafür in meinem gewohnten Rollstuhl, meinem alten Kameraden.
Soweit zu den äusseren Vorgängen. Mich persönlich hat das Darshan innerlich wenig berührt, ich muss es gestehen. Vielleicht war ich von den äusseren Vorgängen zu sehr abgelenkt, vom weiten Blick über die Stadt etwa oder von der älteren Ashram-Mitarbeiterin, die als Hüterin der Schwelle ins innerste Heiligtum, «Mutters» Zimmer eben, Einlass gewährte und dabei die Studenten immmer wieder lehrerhaft dazu ermahnte, beim Tragen den Rücken gerade zu halten. Trotzdem war ich von der Stimmung im Zimmer berührt, hauptsächlich von jener stillen Ergebenheit der meist indischen BesucherInnen, die an Devotion grenzt und die uns «aufgeklärte» Europäer oft seltsam berührt, ganz so als wäre dies ein Verstoss gegen die Errungenschaften der Aufklärung.
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Bildnachweis:
Sri Aurobindo-Ashram in Pondicherry von balaji chankar, via fotopedia (cc-Lizenz)
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