Daniel de Roulet – Zehn unbekümmerte Anarchistinnen

St. Imier ist eine kleine Stadt im Schweizer Jura. Eine Uhrenstadt – hier werden in den aufstrebenden Manufakturen des 19. Jahrhunderts präzise Zeitmesser namhafter Marken hergestellt. 1872 fand in eben diesem Städtchen eine Versammlung zahlreicher Anarchisten aus aller Welt – inklusive Bakunin – statt, bei der die Antiautoritäre Internationale gegründet wurde. St. Imier ist die Heimatstadt von Colette, Juliette, Émilie, Jeanne, Lison, Adèle, Germaine, Mathilde, Valentine und ihrer Schwester Blandine. Eine Heimatstadt, die ihnen, die nach Größerem trachten, die als Anarchistinnen die große Revolution herbeisehnen, zu eng wird. Sie beschließen, teilweise mit Kindern, allesamt aber ohne Männer, jedoch mit einer Longine A20 (die sie „Zwiebelchen“ nennen) als Kriegskasse im Gepäck, auszuwandern. Als Ziel haben sie das chilenische Patagonien gewählt. Zwei der zehn Frauen waren bereits nach Chile gegangen, dort jedoch unter ungeklärten Umständen umgekommen. Und so machen sich die restlichen acht auf den Weg über Frankreich und den Atlantischen Ozean nach Punta Arenas.

“Wir fassten die Emigration ins Auge, um uns ein neues Leben zu erfinden.“

Schon während der Überfahrt nach Amerika stirbt eine der Gefährtinnen und auch danach verringert sich ihre Zahl von Kapitel zu Kapitel. Die Neuankömmlinge trotzen dem Wetter an der Südspitze des amerikanischen Kontinents, chauvinistischen Bürokraten und der eigenen Fremdheit. Sie versuchen so frei wie möglich zu leben, bauen eine Bäckerei und eine Uhrenwerkstatt auf, erziehen ihre Kinder antiautoritär und pflegen offene Beziehungen. Zurückkehren wollen sie erst, wenn die große Umwälzung stattgefunden hat und jegliche Herrschaft abgeschafft wurde.

„Da wir nicht an das Ende der Welt gekommen waren, um Gemüse zu putzen oder Dienstmädchen zu spielen und nur die Hälfte zu verdienen, waren wir bereit, wie Männer zu arbeiten, vorausgesetzt, es brachte uns genauso viel ein.“

Daniel de Roulet – Zehn unbekümmerte AnarchistinnenErrico Malatesta alias „Benjamin“

Nach mehreren Jahren verlassen sie Patagonien, um sich einer Art Kommune auf einer Pazifikinsel anzuschließen, doch auch dort bleiben sie nicht dauerhaft. Auf all ihren Stationen erhalten sie regelmäßig Post von einem gewissen Benjamin, den sie während des Anarchisten-Kongresses in St. Imier kennengelernt hatten. Dieser Benjamin ist kein Geringerer als der italienische Anarchist Errico Malatesta, der als einer der bedeutendsten Aktivisten der anarchistischen Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Europa gilt und unter anderem das Werk „Anarchie“ verfasst hat.

„Wir ziehen Bilanz: Wir haben uns Momente der Freiheit erobert, für die sich das Ganze gelohnt hat. Was zählt, ist nicht, die anarchistische Utopie zu verwirklichen, sondern Anarchistin zu sein.“

Letztendlich bleibt mit Valentine nur eine der zehn übrig. Sie ist es auch, die die Geschichte erzählt. Ihr Resümee ist für mich auch gleichzeitig der zentrale Satz des Buches. Generationen von Weltverbesserern haben darauf gewartet, dass die große Umwälzung kommt, mit der sich alles ändert, die herrschenden Verhältnisse beseitigt werden. Dabei haben wir die Möglichkeit, mit der Art wie wir leben, konsumieren und arbeiten, die Welt ein Stück zum Besseren zu verändern. Es gibt eben doch „Richtiges im Falschen“. Mit Zehn unbekümmerte Anarchistinnen schrieb Daniel de Roulet nicht nur ein Buch mit einer wichtigen Botschaft, sondern auch ein Stück sehr unterhaltsame, spannende Literatur. Und übrigens – Saint Imier ist bis heute die einzige anarchistisch-kommunalistisch geführte Gemeinde in der Schweiz.

Daniel de Roulet – Zehn unbekümmerte AnarchistinnenDaniel de Roulet
Zehn unbekümmerte Anarchistinnen
Übersetzt von Maria Hoffmann-Dartevelle
184 Seiten
erschienen Oktober 2017
Limmat Verlag
EUR 24,-


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