Damit die Leser dranbleiben

Von Vera Nentwich @veraswelt

Der Beginn einer Geschichte ist entscheidend dafür, ob sich ein Leser für diese weiter interessiert oder nicht. Ich habe in letzter Zeit in viele Bücher hineinlesen können und muste feststellen, dass dies vielen Autoren und Autorinnen nicht bewusst zu sein scheint. Dem Beginn eines Buches kommt eine besondere Bedeutung zu, die man tunlichst nicht vernachlässigen sollte.


An anderer Stelle habe ich mich bereits näher mit dem ersten Satz eines Buches beschäftigt. Heute betrachte ich den ersten Absatz, den etwas längeren Einstieg in das Buch. Neben den formalen Aspekten, die ich in der letzten Woche beschrieben habe, ist dieser erste Textabschnitt für mich entscheidend, ob ich mich in ein Buch hineinziehen lasse oder nicht.

Lass mich dazu noch kurz anmerken, dass ich nicht die zentrale Normierungsstelle für optimale Buchanfänge bin. Ich kann nur meine Eindrücke schildern und diese ggf. mit eigenen Erfahrungen untermalen. Dies kann eine Anregung für andere Autorinnen und Autoren sein, die eigenen Werke einmal kritisch zu betrachten. Es ist aber völlig in Ordnung für sich zu einem anderen Schluss zu kommen.

Der erste Absatz ist stellvertretend für das Buch

Wenn ich ein Buch in die Hand nehme, mich Titel und Cover angesprochen haben, dann lese ich den Anfang. Dieser gibt mir einen Eindruck zum Stil des Autors und zur Perspektive, aus der erzählt wird. Zudem erzeugt er im besten Fall ein Gefühl für die Geschichte und löst eine Emotion aus. Auf jeden Fall sollte ich darauf neugierig werden, wie es denn weitergeht. Bei vielen Buchanfängen, die ich in letzter Zeit lesen durfte, hatte ich aber eher den Eindruck, sie waren nur mit dem Vorwissen des Autors verständlich. Dabei konnte ich verschiedene Arten von Anfängen ausmachen.

Der Ich-verrate-nicht-worum-es-geht-Anfang

In dieser Art des Beginns bleibt alles im Verborgenen. Es unterhalten sich zwei Menschen. Man kennt weder deren Namen, wer sie sind, wo sie sind und erst recht nicht worum es geht. Ich lese die erste Seite und in meinem Kopf ist Leere, wo eigentlich eine Vorstellung entstanden sein sollte. Nur durch diese Vorstellung werde ich aber motiviert, an dem Buch dranzubleiben. Die Frage "Wann sagt mir der Autor denn endlich, worum es überhaupt geht?" reicht nicht aus, um Spannung zu erzeugen. Spannung entsteht nämlich erst, wenn man ein Bild im Kopf hat. Man möge sich mal einen Hitchcock-Film ansehen. Dann versteht man, welche Spannung Bilder im Kopf auslösen.

Der Ich-erkläre-gleich-alles-Anfang

Das Gegenteil ist der Anfang, in dem möglichst alle Hintergründe auf einmal erklärt werden. Dies erzeugt aber ebenfalls keinerlei Neugier oder gar Spannung. Zudem sind reine Erklärungen immer eher berichtend und dadurch nicht emotional und distanziert. In einem Anfang las ich folgenden Satz:

Der Ausgang des Gesprächs, das in Kürze stattfinden sollte, würde über Gedeih und Verderb der Firma entscheiden, die im hinteren Teil des Industriegebäudes untergebracht war.

Erzeugt das Neugier? Nein, es liest sich wie ein Zeitungsartikel. Die Erläuterungen verhindern irgendeine Art von Spannung. Stattdessen hätte der Autor die Erläuterungen weggelassen können:

Der Ausgang des Gesprächs würde über Gedeih und Verderb der Firma entscheiden.

Es käme definitiv mehr Spannung auf. Allerdings käme dann der Anfang in eine andere Kategorie, die auch schwierig ist.

Der Ich-sage-Spannung-voraus-Anfang

Spannung und Neugier muss durch die Handlung in der Geschichte entstehen und nicht dadurch, dass Autorin oder Autor sagen, dass es gleich spannend wird. Der oben genannte Satz ist da ein Beispiel. Schlimmer ist es aber, wenn dazu auch noch die Perspektive geändert wird und sich der Autor quasi an das Publikum wendet.

Er nahm seine Kaffeetasse und ging zum Arbeitszimmer. Er wusste nicht, dass er gleich in eine Blutlache treten würde.

Dieser Nachsatz löst den Leser aus dem Geschehen und macht ihn wieder zum distanzierten Betrachter. Die Spannung ist weg. Hätte der Autor den Leser einfach den Schrecken miterleben lassen, den auch seine Figur erlebt, wäre die Chance höher gewesen, den Leser bei der Stange zu halten.

Der Es-war-so-schönes-Wetter-Anfang

Sehr häufig habe ich in letzter Zeit Buchanfänge gelesen, in denen erst einmal beschrieben wird, wie das Wetter war. Es wehte eine frische Brise, Blumen wiegten sich im Wind und Schmetterlinge flatterten herum. Doch der Anfang muss ein Bild von der Geschichte in mir erzeugen und nicht von dem Wetter. Es sei denn, es ist ein Roman über irgendeine Wetterkatastrophe. Wenn dieser Anfang dann noch mit langen Sätzen, wie im Folgenden, gefüllt wird, bin ich raus.

Der Ich-kann-ganz-tolle-Sätze-konstruieren-Anfang

Die Aufgabe des Anfangs ist es, mich als Leserin gleich an die Hand zu nehmen und in die Geschichte hineinzuziehen. Ich las folgenden Satz am Beginn einer Geschichte:

Es fühlte sich an, als ob sich ein Schmetterling auf ihre Wange niedergelassen hätte und ihr mit seinen zarten, dünnen Flügeln einen feinen Hauch frische Luft zufächelte, dessen angenehme Kühle sich von diesem Punkt aus in ihrem ganzen Körper verbreitete und die Hitze, die sich in ihrem Kopf gestaut hatte, zu lindern vermochte.


Der Autor hat sich sicher viel Mühe bei der Komposition dieses Satzes gemacht, aber wenn ich schon zu Beginn eines Buches einen Satz dreimal lesen muss, um zu verstehen, was er mir sagen soll, dann gebe ich gleich auf.

Dies sind nur einige Beispiele von Anfängen, die ich in letzter Zeit oft lesen durfte und die mich persönlich nicht für ein Buch interessieren können. Es gibt noch weitere, wie den Ich-habe-eine-ganz-wichtige-Botschaft-Anfang, bei dem mir schon vor Beginn deutlich klar gemacht wird, welche Meinung der Autor hat.

Wie gesagt, zu einem gewissen Maß sind meine Betrachtungen Geschmackssache. Es mag sogar das eine oder andere Beispiel der Weltliteratur geben, dass es genauso macht. Für die breite Masse der Autorinnen und Autoren, zu der ich mich definitiv mitzähle, gilt meines Erachtens aber, solche Anfänge eher zu vermeiden.
Erzähle mir in einem Kommentar, welche Anfänge dich in eine Geschichte ziehen. Welche schrecken dich eher ab?