Damals war nicht alles falsch und heute ist nicht alles richtig

Ein Aufruf für mehr Ausgewogenheit auch bei widerlichen Themen.
Konservative Medien schossen sich in den letzten Wochen auf die Grünen und teilweise auch auf die „Liberalen“ ein, weil die in den Achtzigern teilweise Sympathie für Pädophile pflegten und deren Strafverfolgung einstellen wollten. Dieser Kuschelkurs war zwar falsch. Die heutige in der Mitte angekommene inquisitorische Gnadenlosigkeit ist es allerdings auch.

Damals war nicht alles falsch und heute ist nicht alles richtig

Bekenntnis-Aufkleber. Ein
Stück Anti-Aufklärung, erhältlich
für Dreifuffzig.

Es waren progressive Jahre. Man wollte umbauen und fortentwickeln. Trieb die Versoziologisierung voran; selbst in Nischen, in denen etwas weniger davon angebrachter gewesen wäre. Nicht alles was die Elterngeneration an Vorstellungen und Idealen pflegte, war zwangsläufig generalzuüberholen. Es waren Jahre mit all ihren Verirrungen und Übertreibungen. Mit verkitschter Analyse. Und manches war hierbei naiv philantropisch. Jedes Tabu stand auf dem Prüfstand. Die Gesellschaft sollte entkrustet werden. In diesem Klima formierte sich die Gleichstellung der Geschlechter (inklusive radikaler Irrtümer), emanzipierten sich Schwule und Lesben (inklusive hedonistischer Sackgassen), suchte die westliche Linke nach gangbaren Wegen im kapitalistischen System (inklusive Auflösungserscheinungen) und kämpften alternative Lebens- und Liebesformen um Anerkennung (inklusive libertärer Romantizismen). Es war letztlich eine Phase des trial and error - manchmal auch ganz ohne Versuch.

Doch nicht alles war falsch. Selbst im Falle jenes Theorems von der Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern nicht. Auch wenn diese Erkenntnis heute nicht populär ist. Wenn man nämlich die Romantik abschminkt, die in jenen Jahren arg die soziologische Sicht auf gesellschaftliche Phänomene bestimmte, dann bleibt allerlei übrig, was den heutigen Diskurs, der zwischen "lebenslang wegsperren dem Wortsinn nach" und Todesstrafe taumelt, nicht schlecht täte.
Der Pädophile darf eben nicht als Monster angesehen werden, als tickende Kalkül-Bestie. Er ist nicht, um es sich einfacher zu machen, als krank oder gestört zu kategorisieren. Das sind Nischen, die sich die bürgerliche Gesellschaft geschaffen hat, um kategorische Einteilungen zu simplifizieren und gesellschaftliche Prozesse leichter zu umreißen. Die moderne Psychologie ist im Regelfall auch autark genug, sich von solchen Konstrukten nicht beeindrucken zu lassen. Pädophile haben - vereinfacht gesagt - das Problem, dass sie eine sexuelle Vorliebe entwickelt haben, die in die moderne Gesellschaft nicht mehr passt. Das hat auch mit der Lebenserwartung und der weitaus besseren Überlebensquote werdender Mütter zu tun.
Islamophobe Stimmen gehen oft so weit, den Propheten Muhammad einen Kinderficker zu nennen, weil er auch junge Mädchen zur Frau nahm. Das geschieht in der Verkennung damaliger Zustände. Alan Posener schreibt in seinem Büchlein über Maria, dass es im Judentum der Zeitenwende nötig war, wollte man die Bevölkerungszahl konstant halten, dass jede Frau durchschnittlich fünf lebende Kinder zur Welt bringen musste. Hinzu kamen eine Reihe von Fehl- und Totgeburten oder Kindern, die nach wenigen Wochen oder Monaten starben. Die Lebenserwartung lag damals bei etwa 25 Jahren, sodass Mädchen spätestens im Alter zwischen 12 und 14 in die Pflichten des Erwachsenenlebens eingeführt wurden.
Da die Lebenserwartung und die hygienischen Bedingungen sich grundlegend verändert und verbessert haben, ist dieses Modell kaum noch existent. Es ist schlicht nicht mehr notwendig, um die Existenz der Menschheit zu sichern. Insofern sind Personen mit pädophilen Neigungen auch - aber nicht ausschließlich - als Anachronismus anzusehen.
Das entschuldigt natürlich nichts. Darf nicht als Ausrede dienen. Sollte aber als Hintergrund bewusst gemacht werden. Die Stimmen jener progressiven Jahre, in denen der Kuschelkurs mit Pädophilie begründet wurde, haben den freien Willen dieser Menschen geleugnet. Auch wenn sie Vorlieben entwickelt haben, unter denen sie natürlich auch leiden, so muss das "Subjekt unter freien Willen" gewahrt bleiben. Und der unterstellte freie Wille eines Kindes, wie man das in jenen Kreisen damals zwischen den Zeilen las, ist grundlegend in Zweifel zu ziehen. Kindern kann man allerlei gegen ihren Willen einreden.
Was man aber aus jenen Jahren lernen kann, dass ist die etwas entspanntere Haltung zur Problematik. Das klingt natürlich arrogant für jemanden, der Erfahrungen mit dem sexuellen Gebrauch eines Kindes gemacht hat. Dazu gehört Distanz. Aber Pädophile als problembeladene Menschen zu sehen, als Personen mit einer sexuellen Neigung, die nicht mehr tragbar ist, dieses Problem aber nicht in Bausch und Bogen in Moral zu tunken, sondern offen damit umgehen, dabei aber auch immer Grenzen aufzeigen: Das wäre ein Auftrag an diese Gesellschaft, in deren bürgerliche Mitte sich eine Lynchstimmung gegen Menschen etabliert hat, die in dieser Weise schon mal auffällig wurden. Diese radikale Gesinnung gipfelte in der Forderung eines berühmten Schauspielers, wonach Sexualstraftäter keine Menschenrechte mehr haben sollten. Und die Gattin des ehemaligen Verteidigungsministers rief zur Straftat auf und glaubte damit ihren Teil zur "Jagd auf Perverse" zu leisten.
Die Abgeklärtheit des Pädophilieverständnisses der frühen Achtzigerjahre und der heutige Anspruch, sie - die Pädophilie - nicht durchgehen zu lassen: Würden sich beide Haltungen vereinen, könnte man mehr zur Prävention und Aufklärung leisten, als es diese beiden extremistischen Sichtweisen je für sich könnten. Es war damals eben nicht alles falsch und es ist heute eben nicht alles richtig.
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