Die Dakini repräsentiert im buddhistischen Kontext ein Wiedererscheinen des Weiblichen auf allen Ebenen des spirituellen und übersinnlichen Bereiches, nicht nur als Zusatz zu einer männlichen Gottheit, sondern als unabhängige Kraft mit eigener Berechtigung. Gemäß dem Anuttara-Tantra begegnet der Kandidat der Weisheit in der Verkörperung der Dakini von Angesicht zu Angesicht, wenn er anlässlich der dritten, der Weisheitsinitiation vom Guru durch das östliche Eingangstor ins Zentrum des Mandala geführt wird. Ohne die Integration des Weiblichen kann die Psyche des Mannes nicht vollständig, nicht erleuchtet werden.
Vom historischen Standpunkt aus hat das westliche Bewusstsein die Tendenz, sowohl die weibliche Seite als auch die Schattenseite aus dem Himmel, aus dem Herrschaftsbereich des Spirituellen auszuschließen. Wir finden jedoch im tantrischen Buddhismus des mittelalterlichen Indien und Tibet, insbesondere im Anuttara-Tantra den interessanten Vorgang der Wiedereingliederung, sowohl des Weiblichen als auch der Schattenseite des Bewusstseins in das Mandala der Psyche. Diese manifestieren sich nicht als zweitrangige Gestalten von geringer Bedeutung in der Peripherie, sondern sie nehmen als unmittelbare Manifestation von erleuchtetem Gewahrsein eine zentrale Stellung im Mandala ein. Hier findet die Methode der Alchemie, der Prozess der Transformation (gyur lam) Anwendung, in dem negative Emotionen nicht verleugnet werden, sondern ihre Energie wird akzeptiert und in erleuchtetes Gewahrsein in der Erscheinungsform einer Meditationsgottheit transformiert.
Aus der Einleitung zum „Geheimen Buch der Simhamukha“ von Lama Vajranatha (John M. Reynolds, 1987). Übersetzt von Florian Lobsang Dorje (2015).